So viele Nationaltheater

Theater heute (6) Funny, these Germans. Sie haben so komische Wörter wie „Integrationsdebatte“. Deutsche Theaterreise eines englischen Kritikers

Ich war nach Berlin gekommen, um etwas über das gegenwärtige deutsche Theater zu erfahren. Wie schlägt sich die Integrationsobsession der Nation auf der Bühne nieder? Wie überlebt das Schauspiel im aktuellen wirtschaftlichen Klima? Und in welchem Maße ist das Theater von den Regisseuren bestimmt? Als ich aber nur wenige Minuten nach meiner Ankunft entdeckte, dass in einem der Theater am Kurfürstendamm, gegenüber von meinem Hotel, Der Blaue Engel anlief, beschloss ich dem Lustprinzip zu folgen, stellte die großen Themen hinten an und eilte zur Uraufführung.

Es ging dort ganz anders zu als bei einer typischen Londoner West-End-Premiere: Keine Paparazzi, die C-Promis fotografieren, keine hysterischen Standing Ovations, sondern lediglich ein gut gekleidetes, bürgerliches Publikum in mittleren Jahren, das einen Klassiker der deutschen Filmgeschichte genießt. Heinrich Manns Romanverfilmung mit Marlene Dietrich wurde schon oft adaptiert. Das Bemerkenswerte an Peter Turrinis Neufassung besteht darin, dass sie auf doppelte Art und Weise funktioniert. Die Darstellung der Verliebtheit des Professor Unrat in die Kabarettsängerin Lola ist ein sarkastischer Angriff auf die den Deutschen heilige Vorstellung, dass Bildung zu Tugendhaftigkeit führe. Gleichzeitig können sich die Augen an Lola in ihren schwarzen Strapsen weiden, während sie „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ schmettert.

Die bezaubernde Eva-Maria Grein von Friedl vermeidet es allerdings klug, die Dietrich nachzuahmen, und gibt die Lola als hartherziges Showgirl, das auf den Heiratsantrag des Professors mit einem Kicheranfall reagiert. Die politischen Implikationen des Stückes werden weitgehend umgangen, der Zuschauer bekommt eine bissige moralische Erzählung zu sehen. Es handelt sich hierbei freilich um Boulevard-Theater.


Am anderen Ende des Kurfürstendamms liegt die berühmte Schaubühne. Unter Thomas Ostermeier zieht sie mit ihrer Mischung aus neuen Arbeiten und radikal neu gedachten Klassikern ein junges Publikum an. Sitzt man an einem Samstagabend, umgeben von sich unterhaltenden, lesenden und im Internet surfenden Menschen, im Café des Theaters, kommt man sich vor wie in der Bar des Londoner Royal Court Theatre.

Ostermeiers Versionen von Ibsens Nora und Hedda Gabler sind ebenso wie seine sensationelle Produktion von Sarah Kanes Zerbombt, bei der die Bühne am Schluss nur noch ein Trümmerhaufen ist, dem britischen Publikum aus Vorführungen im Londoner Barbican bekannt. In diesem Jahr wird Ostermeier mit seinem viel gepriesenen Hamlet nach London kommen. Er hat das Stück in ein mafiöses osteuropäisches Land verlegt, alle Figuren von sechs Schauspielern darstellen lassen. Ophelia und Gertrude werden genial von ein und derselben Aktrice verkörpert.

Wenn man mit Ostermeier spricht, bekommt man einen Eindruck von seinem messerscharfen Verstand. In Bezug auf das Thema Immigration sieht er die Rolle der Schaubühne in erster Linie darin, anderen (durch Schulung und finanzielle Unterstützung) zu helfen, das Thema direkt zu bearbeiten, ohne die künstlerische Autonomie zu verlieren. „Ich bin ein großer Unterstützer des Ballhauses Naunynstraße“, sagt Ostermeier. „Das ist ein kleines Theater mit hundert Sitzplätzen, das von der türkischstämmigen Regisseurin Shermin Langhoff geleitet wird und großartige Arbeit bei der Ausbildung junger türkischer Schauspieler und Autoren leistet. Es ist allerdings wichtig, dass ihnen die Produktionsmittel gehören und die Schaubühne ihre Arbeit nicht kolonisiert.“

Weiter erklärt Ostermeier: „Ich halte es für völlig überholt, das deutsche Theater als ein Refugium zu betrachten, in dem eine überkommene Vorstellung von deutscher Monokultur und nationalistischen Werten hochgehalten wird. Wir müssen begreifen, dass wir in einer multi-ethnischen Gesellschaft leben und ein dynamisches, neues Theater schaffen, das weiter geht, als ewig Klassiker zu dekonstruieren.“

Ostermeier nennt ein neues deutsches Stück, das Teil seines diesjährigen Festivals war: Regen in Neukölln von Paul Brodowsky, das ich gesehen habe und das, wie viele der Schaubühnen-Stücke, englisch übertitelt ist. Es bietet eine lebhafte Beschreibung des Lebens in einer ethnisch gemischten Berliner Gesellschaft und arbeitet herrschende Vorurteile trennscharf heraus. Da steigt zum Beispiel ein älterer Taxifahrer einem 17-jährigen türkisch-deutschen Mädchen nach, von dem er ganz selbstverständlich annimmt, dass es eine Prostituierte ist. Ibrahim, der verarmte Vater des Mädchens, wird von allen zu Unrecht als ein weiterer muslimischer Sozialschmarotzer abgetan. Indem es einen platten Realismus vermeidet, ist das Stück nicht nur eine berührende Studie über rassistische Stereotypen, sondern auch über die Isolation der Menschen. Sarah Rosenbergs Bühnenbild findet hierfür eine treffende Symbolsprache mit einem Bürgersteig, der nach und nach in eine Reihe von Pflastersteinen auffasert, auf denen die Menschen dann stranden.

Welch ein Bühnenbild!

Überhaupt scheint das Bühnenbild im deutschen Theater eine bedeutende Rolle zu spielen. Ein besonders eindrückliches Beispiel ist das Stück Diebe von Dea Loher im renommierten Deutschen Theater. Wie Brodowskys Stück handelt auch das Lohers von Furcht und Isolation und wird durch die episodische Verflechtung individueller Geschichten erzählt. Das Bühnenbild von Regisseur Andreas Kriegenburg ist atemberaubend: Der gewaltige Szenenaufbau wirkt wie eine sich drehende Windmühle, die nacheinander eine Reihe einzelner Kammern preisgibt, in denen der Halt der Schauspieler ständig bedroht ist. Es verkörpert perfekt das Thema des Stückes – dass wir alle auf tragische Weise fragmentierte, unzusammenhängende Leben führen. Britische Schauspieler würden sich wohl bei ihrer Gewerkschaft beschweren oder eine Gefahrenzulage verlangen, müssten sie auf solch einer Bühne arbeiten.

Große Dimensionen sind am Deutschen Theater nicht die Ausnahme. Es hat nicht weniger als 60 Produktionen in seinem Repertoire, die in drei Sälen gezeigt werden, verfügt über einen Mitarbeiterstab von 282 Leuten und ein staatliches Budget von fast 20 Millionen Euro. Das ist dem britischen National Theatre vergleichbar.

Auf der Basis eines dreitägigen Aufenthalts ist es schwer, großartige Beurteilungen abzugeben. Ein paar Dinge stachen mir dennoch ins Auge. Zum einen, dass Berlin Zuversicht ausstrahlt. Die neunziger Jahre waren eine Zeit der finanziellen Krise, der die großen Veranstaltungsorte Schillertheater und Freie Volksbühne geopfert werden mussten. Heute existieren die kommerziellen Inszenierungen wie Der Blaue Engel oder We will rock you (am Theater des Westens) neben dem avancierten Interna­tionalismus der Schaubühne und dem traditionellen Modell der staatlichen Finanzierung im Deutschen Theater.

Ich habe auch das Gefühl, dass das Berliner Theater in Sachen Schauspiel, Regie und Bühnenbild weiter ist als im Schreiben neuer Stücke. Ostermeier erinnerte im Gespräch an eine Podiumsdiskussion mit Sarah Kane, Mark Ravenhill, Stephen Daldry und Phyllis Nagy 1997 in der Baracke, dem einstigen Studio des Deutschen Theaters. Irgendwann habe Kane gefragt, was denn all das Aufheben um britische Dramatiker solle. „Ihr müsst selbst neue Autoren entdecken und unterstützen!“

Das ist in den vergangenen Jahren mit Leuten wie Marius von Mayenburg und Roland Schimmelpfennig, die beide am Royal Court zu sehen waren, teilweise geschehen. Ostermeier aber ist der Ansicht, dass zu viele deutsche Dramatiker dadurch Schaden nehmen werden, dass sie zu jung Erfolg haben. Er hat das Gefühl, sie bringen zu wenig wirkliche Lebenserfahrung an das Theater. Die so genannte „Integrationsdebatte“ konzentriert sich im Theater auf das kleine Ballhaus Naunynstraße. Es ist gut, dass die von dort stammende Inszenierung Verrücktes Blut über einen Lehrer, der Schillers Räuber dafür verwendet, mit der Gewalt im Klassenzimmer umzugehen, zum diesjährigen Theatertreffen eingeladen wurde – einer einmonatigen Präsentation der besten deutschen Inszenierungen.

Bei meiner Abreise hatte ich das Gefühl, dass das deutsche Theater vor einer wichtigen und wegweisenden Herausforderung steht. Dabei sind seine Voraussetzungen nicht schlecht. Wie aber wird es ihm gelingen, das traditionelle bürgerliche Theaterpublikum, das seine Klassiker sehen will, mit der Notwendigkeit zu versöhnen, die multi-ethnische Realität des Landes zu thematisieren? Ein ähnliches Problem, wie wir es in Großbritannien haben. Ich vermute, die Zukunft des Theaters hängt davon ab, wie dieses Problem gelöst werden wird.

Michael Billington ist Theaterkritiker des englischen Guardian

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Michael Billington | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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