Mehr als 20 angezündete Autos in einer einzigen Nacht, völlig ausgebrannte Klassenzimmer und 50 Rechtsradikale, die in einer Vorstadt Jagd auf Einwanderer machen. Was im Stockholmer Vorort Husby begann, griff zunächst auf andere Außenbezirke der schwedischen Hauptstadt über, bis schließlich auch in anderen Städten des Landes Autos und Gebäude brannten. Die Polizei wurde mit Steinen beworfen, ganze Viertel verwandelten sich in No-Go-Areas – selbst für Rettungswagen. Schweden erlebt seit einer Woche Ausschreitungen von bemerkenswerter Dauer und Intensität, so dass in jedem Artikel über die Ereignisse die Frage aufgeworfen wurde: Warum hier?
Das ist sicher eine gute Frage. Weisen Umfragen Schweden nicht häufig als eines der gl
äufig als eines der glücklichsten und zufriedensten Länder aus? Ist es nicht berühmt für seine Gleichheit und die freundliche Aufnahme von Einwanderern? Was ist geschehen mit Stockholm, der Hauptstadt des gesellschaftlichen Fortschritts? Polarisierung schreitet voranWir alle kennen die Klischees. Doch die werden der Realität nicht mehr gerecht. Egal, ob es um die Schere zwischen Arm und Reich, das Sozialsystem oder die öffentlichen Dienstleistungen geht – Schweden ist weniger schwedisch als jemals zuvor. Auch wenn die politischen Eliten sich nach wie vor auf die Stockholmer Version des „europäischen Sozialmodells“ berufen und diese in der Popkultur immer noch nachwirkt – der Sozialstaat präsentiert sich heute auch in Schweden stark ramponiert. Die Polarisierung der Gesellschaft schreitet mit großer Geschwindigkeit voran. Immer mehr öffentliche Dienstleistungen werden an private Firmen ausgelagert – teils mit katastrophalen Folgen. Angesichts dieser Entwicklung stellt sich nicht so sehr die Frage: Warum hier? Sondern vielmehr: Wenn so etwas in Schweden passiert, was ist dann erst anderswo möglich? Laut OECD hat die Ungleichheit seit 1985 in Schweden so stark zugenommen wie in keinem anderen der 31 am stärksten industrialisierten Länder weltweit. Man darf das nicht überbewerten. Noch immer sind die Einkommensverhältnisse hier so ausgeglichen wie in kaum einem anderen Land. Doch die Entwicklung geht mit großen Schritten in die falsche Richtung. Einst waren die Schweden stolz auf ihren Sinn für Ausgleich, den sie lagom nennen. Von Premierministern erwartete man das bescheidene Leben eines Lehrers. Das steht in starkem Kontrast zur aktuellen Mode des sogenannten vaskning. Das Wort bedeutet „versenken“ und bezieht sich auf eine Mode unter jungen, reichen Schweden: Man kauft zwei Flaschen Champagner und weist den Barmann an, eine in den Ausguss zu schütten. „Stellen Sie sich vor, ein arbeitsloser Jugendlicher in Husby hört davon“, sagt Matilda von Sydow, die diese Manifestation der Verschwendung in den Bars auf dem eleganten Stockholmer Stureplan mitangesehen hat. Und das ist die andere Seite: Während die wachsende Ungleichheit zunächst lediglich daraus resultierte, dass die reichen Schweden noch reicher wurden, werden nun die ärmeren Teile der Bevölkerung durch den relativen Rückgang von Arbeitslosengeld und von Leistungen bei Berufsunfähigkeit immer weiter zurückgeworfen. Manchen Statistiken zufolge ist jeder vierte schwedische Jugendliche ohne Job. In manchen Städten gibt man den jungen Leuten Geld, damit sie ins reichere Norwegen auswandern. Westminster weit vorausZugleich kann man in Schweden beobachten, dass Parteien jedweder Couleur im Laufe der vergangenen fünf Jahre nach rechts gerückt sind. Die Linken haben 2005 die Erbschaftssteuer abgeschafft, so dass jemand, der eine Million Kronen erbt, heute keine Abgaben mehr zu leisten hat, dafür aber 67 Prozent Steuern zahlen muss, wenn er sein eigenes Unternehmen gründen will. Wenn es um die Privatisierung des Öffentlichen Dienstes geht, ist man in Stockholm heute selbst Westminster weit voraus. Hierin ist auch der Grund zu suchen, warum Britanniens Bildungsminister Michael Gove das schwedische System aus Privatschulen und Bildungsgutscheinen so sehr bewundert. Schatzkanzler George Osborne lässt sich gern mit seinem schwedischen Pendant Anders Borg fotografieren. Und im erzliberalen Economist war zu lesen: Die Straßen Stockholms seien vom Blut heiliger Kühe geradezu überflutet. Der Artikel fuhr fort, das schwedische Schulsystem zu loben. Es sei ganz so, wie Milton Friedman es sich vorgestellt habe. Nur dass – so der Politologe Joakim Palme – dieses Schulsystem im internationalen Pisa-Ranking zurückgefallen ist. Etwa zehn Prozent der schwedischen Bevölkerung haben derzeit keine Aussicht, einen Job zu bekommen. Sie müssen von verhältnismäßig geringen Sozialleistungen leben. Einwanderer und deren Kinder tragen hierbei ebenso ein größeres Risiko wie die Bewohner von Vororten wie Husby, wo Banken, Postämter und Jugendclubs aus dem Stadtbild verschwinden. Könnten die Menschen hier das sein, was britische Politiker gern als „underclass“ bezeichnen? Denkt man nun an das noch immer weitaus ungleichere Großbritannien mit seiner stagnierenden Ökonomie, sind die Schlussfolgerungen beunruhigend, die man in der Erwartung dessen zieht, was sich hier in den kommenden Jahren entwickeln könnte.