So wird Demokratie geschreddert

Freihandel USA/EU Künftig sollen gesonderte Schiedsgerichte über Klagen von Investoren gegen Staaten entscheiden
Ausgabe 46/2013
„Big Business“ hat überall seine Interessen: im globalen Handel, im Fracking von
Rohstoffen oder in der Atomenergie. Regierungen stören da nur
„Big Business“ hat überall seine Interessen: im globalen Handel, im Fracking von Rohstoffen oder in der Atomenergie. Regierungen stören da nur

Foto: Spencer Platt/ AFP/ Getty Images

Erinnern Sie sich an ein Referendum über die Gründung eines einheitlichen Wirtschaftsraums zwischen Europa und den Vereinigten Staaten? Ich meine eine Abstimmung, bei der danach gefragt wurde, ob Unternehmen die Macht haben sollten, unsere nationalen Gesetze außer Kraft zu setzen. Nein? Sie erinnern sich nicht? Ich auch nicht. Es muss aber eines gegeben haben. Die EU-Regierungen würden unsere Souveränität doch nicht an irgendeine zweifelhafte, undemokratische Institution abgeben, ohne uns zu konsultieren. Oder doch?

Das Ziel einer Transatlantischen Freihandelszone besteht darin, die Regeln und Gesetze zwischen den USA und den beteiligten EU-Staaten zu harmonisieren. Der wichtigste Aspekt dabei: Das Big Business soll die Möglichkeit erhalten, Regierungen nach Strich und Faden zu verklagen – obwohl die nur die Interessen ihrer Bürger schützen wollen. Mit anderen Worten: Einem geheimnisvollen Gremium von Unternehmensanwälten wäre es gestattet, den Willen europäischer Parlamente kurzerhand außer Kraft zu setzen und unseren Rechtsschutz zunichte zu machen.

Ermöglichen würde all dies der sogenannte „Mechanismus zur Beilegung von Investor-Staat-Streitigkeiten (Investor-State Dispute Settlement, ISDS). Der gilt bereits in vielen Teilen der Welt und dient dazu, Gesetze zu schleifen, die Menschen, Staaten und Kontinente vor der Willkür von Unternehmen schützen.

Die Erfahrung besagt …

Die australische Regierung etwa hat nach harten politischen und gesellschaftlichen Debatten entschieden, dass Zigaretten nur noch in schlichten Einheitsverpackungen verkauft werden dürfen, auf denen abschreckende Bilder vor den Gesundheitsschäden durch Rauchen warnen. Der oberste australische Gerichtshof gab dafür grünes Licht. Doch der Tabakkonzern Philip Morris klagte daraufhin vor einem internationalen Schiedsgericht auf eine immense Entschädigung. Der Konzern begründete die Klage damit, dass er gezwungen worden sei, geistiges Eigentum aufzugeben, und berief sich dabei auf ein Handelsabkommen zwischen Australien und Hongkong.

Ein anderes Beispiel: Während der Finanzkrise 2001/02 verhängte die argentinische Regierung angesichts explodierender Energiepreise und wachsendem öffentlichen Unmut darüber ein Moratorium auf Strom- und Wasserrechnungen. Daraufhin wurde die Regierung in Buenos Aires ausgerechnet von den Konzernen verklagt, deren überhöhte Rechnungen überhaupt der Anlass für diese Entscheidung waren. Die Regierung musste dafür mehr als eine Milliarde Dollar Schadensersatz zahlen.

In El Salvador gelang es einigen Kommunen, die Regierung zu überzeugen, für eine große Goldmine keine Betriebserlaubnis zu erteilen, weil die Gefahr bestand, dass dadurch das Grundwasser vergiftet würde. Diese Courage hatte einen hohen Preis – drei Aktivisten wurden während der monatelangen Kampagne gegen die Mine ermordet. War es dennoch ein Sieg für die Demokratie? Möglicherweise, aber dieser Erfolg wird vermutlich nicht von Dauer sein. Denn die kanadischen Betreiber der Mine haben den Staat El Salvador inzwischen auf 315 Millionen Dollar Entschädigung verklagt – wegen des Wegfalls erwarteter Einnahmen.

Oder das Beispiel Kanada: Dort haben die Gerichte zwei Patente des US-Pharmakonzerns Eli Lilly gekippt, da das Unternehmen in beiden Fällen den behaupteten Nutzen nicht ausreichend belegen konnte. Eli Lilly prozessiert mit der Regierung in Ottawa nun um 500 Millionen Dollar Gewinnausfall und verlangt außerdem eine Änderung der kanadischen Gesetze.

Alle diese Firmen – und Hunderte weitere – berufen sich dabei auf das Investor-State Disput Settlement, das immer öfter Teil von Handelsabkommen ist. Diese Vorschriften werden von Gremien überwacht, für die keine der Regeln gelten, die wir beispielsweise von Gerichten gewohnt sind. Anhörungen bei Auseinandersetzungen zwischen Konzernen und Regierungen finden im Geheimen statt. Viele der Richter sind Unternehmensanwälte, die bei genau solchen Konzernen arbeiten, über deren Fälle sie nun entscheiden sollen. Die Bürger und Kommunen, die von den Beschlüssen ja direkt betroffen sind, können ihre Rechte nicht geltend machen. Es gibt für sie auch keine Möglichkeit, gegen eine Entscheidung zu klagen. Und trotzdem haben diese Gremien die Macht, die Entscheidungen von Parlamenten oder von obersten Gerichten einfach zu kippen.

… dass Bürger rechtlos sind

Das alles glauben Sie nicht? Ein Richter eines solchen Tribunals hat dazu Folgendes gesagt: „Ich kann mich gar nicht genug darüber wundern, dass souveräne Staaten dieser Investment-Schiedsgerichtsbarkeit überhaupt zugestimmt haben. Drei Privatpersonen wird die Macht anvertraut – ohne dass man dagegen Berufung einlegen könnte –, jedes Regierungshandeln, alle Gerichtsbeschlüsse und parlamentarisch abgesegneten Gesetze und Regularien zu prüfen und zu überarbeiten.“

Bürger verfügen gegenüber dieser Rechtspraxis über keinerlei Interventionsmöglichkeiten. Sie können sich nicht an diese Tribunale wenden, um Schutz vor der Gier von Unternehmen zu fordern. Nach Ansicht des Democracy Center, einer rennomierten Nicht-Regierungsorganisation, handelt es sich dabei um ein „privatisiertes Rechtssystem für globale Konzerne“.

Selbst wenn die mit ihren Klagen scheitern, können sie die Gesetzgebung massiv beeinflussen und die Gesetzgeber einschüchtern. Ein kanadischer Regierungsvertreter meint zu den Regularien des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA: „In den vergangenen fünf Jahren habe ich gesehen, wie nahezu bei jedem neuen Gesetz zum Umweltschutz bei der kanadischen Regierung die Briefe von Kanzleien aus New York, Baltimore oder Washington eingingen. Egal, ob es um Wirkstoffe für die chemische Reinigung, um Medikamente, um Pestizide für die Düngung oder um das Patentrecht ging – so gut wie jeder amtliche Vorstoß wurde torpediert. Die meisten erblickten letztlich nie das Licht der Welt.“ Wie kann unter diesen Umständen Demokratie „funktionieren“?

Einem solchen System werden wir unterworfen sein, wenn das Transatlantische Freihandelsabkommen wirklich so aussehen sollte, wie das die US-Regierung und die EU-Kommission derzeit anstreben. Beide drängen darauf, eine Schiedsgerichtsbarkeit für Streitfälle zwischen privaten Investoren und staatlichen Akteuren in das Abkommen aufzunehmen. Die EU-Kommission rechtfertigt dies mit der Behauptung, nationale Gerichte böten Unternehmen keinen ausreichenden Schutz. Sie seien „parteiisch“ oder „zu wenig unabhängig“. Welche Gerichte sind da gemeint? US-amerikanische? Die eigenen in der EU? Nähere Erklärungen sind bisher leider ausgeblieben. Tatsächlich wird kein einziges Beispiel angeführt, aus dem sich die Notwendigkeit eines übergerichtlichen Schiedssystems ergeben würde. Warum? Weil die Gerichte in den EU-Staaten normalerweise weder „parteiisch“ noch „zu wenig unabhängig“ sind? Wollen sie die Unternehmen deshalb umgehen?

Mit der geplanten Investment-Schiedsgerichtsbarkeit kann jeder Versuch torpediert werden, Banken zu regulieren, die Gewinnsucht von Energiekonzernen zu zügeln, Bahnunternehmen zu renationalisieren oder Bergbaubetriebe zum Verzicht auf die Erschließung fossiler Bodenschätze zu zwingen. Weil das so ist, haben die EU-Regierungen bisher keinen Versuch unternommen, ihre Bürger über diesen Angriff auf die Demokratie zu informieren. Wacht auf Leute, wir werden für dumm verkauft.

George Monbiot ist Kolumnist des Guardian und arbeitet zu sozialen und ökologischen Themen

Dieser Artikel ist Teil des Wochenthemas "Die Schattenkrieger". Sehen Sie auch die Beitrage "Der verklagte Atomausstieg" und "Nichts bleibt, wie es ist".

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Übersetzung: Zilla Hofman
Geschrieben von

George Monbiot | The Guardian

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