„Eine Armee marschiert auf ihrem Magen”, wusste Napoleon vor knapp 200 Jahren, als er zu seinem Russland-Feldzug aufbrach. Der International Security Assistance Force (ISAF) in Afghanistan werden die Mägen im wörtlichen wie metaphorischen Sinne dank eines Netzes von Versorgungstrassen durch Pakistan und Zentralasien gefüllt. Die fast 65.000 ISAF-Soldaten kommen überwiegend aus NATO-Staaten, und dort fallen die Entscheidungen, wie ihr Nachschub geführt und garantiert werden kann. Ist die Versorgung von Streitkräften im Kriegseinsatz seit jeher ein aufwendiges Unterfangen, das viel logistischen Aufwand verlangt, gilt das um so mehr, wenn es sich wie bei Afghanistan um einen Binnenstaat handelt, der in einer der politisch sensibelsten Weltregionen liegt.
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Die erste Herausforderung besteht dabei in der so genannten „lethal supply” – dem Transfer von Kriegsgerät im engeren Sinne, also von Waffen und Munition. Weil auf dem Landweg die durch Anschläge und Raub verursachten Verluste inzwischen erschreckend hoch sind, wird immer mehr Equipment von Luftwaffenbasen in benachbarten zentralasiatischen Ländern oder über Pakistan eingeflogen. Diese Luftbrücken sind unverzichtbar, seit im Vorjahr ganze Hubschrauber auf dem Weg durch Pakistan abhanden kamen.
Umso mehr sind alternative Routen gefragt, zum Beispiel durch den Iran, über dessen Straßen bereits Nahrungsmittel und Benzin nach Afghanistan gelangen – aber auch durch Russland, das dem Transport von zivilen Gütern durch seine zentralasiatischen Regionen bereits zugestimmt hat.
Von Paschtunen bevölkert
Doch sollte sich niemand Illusionen hingeben: Versorgungstrassen durch die Islamische Republik Iran und die Russische Föderation führen durch ein politisches Minenfeld, das zu räumen der NATO nur bei diplomatischen Konzessionen und viel Feingefühl möglich sein wird. Für Moskau geht es hier um nicht weniger als die Hegemonie in einer traditionellen Einflusssphäre wie Zentralasien, die von der NATO nicht nur wegen ihrer Präsenz in Afghanistan gern als Claim abgesteckt wird.
Bisher setzte der Nordatlantikpakt bei seinem Transit vornehmlich auf Pakistan, das über den kürzesten Landweg nach Afghanistan verfügt. Gegenwärtig laufen dort 75 Prozent der „zivilen Versorgungsgüter“ – von Seife über Ersatzteile und Baumaterial bis hin zu Benzin – über zwei Routen. Zuvor erreichen fast alle Frachten Pakistan auf dem Seeweg, fast alle Container werden im Hafen von Karatschi gelöscht, auf Lastwagen verladen und dann nach Afghanistan transportiert: Entweder über Peshawar, die Hauptstadt der Nordwestlichen Grenzprovinz (NWGP), und Torkum, eine kleine Stadt am Khyber-Pass an der Grenze zu Afghanistan – oder über Chaman im südlichen Bundesstaat Belutschistan. Diese zweite Route führt nach Kandahar, der wichtigsten Stadt im Süden Afghanistans und Heimat des heutigen Präsidenten Hamid Karsai. Auch wenn die NATO erklärt, die Stadt unter Kontrolle zu haben, gilt Kandahar inzwischen als einer der unberechenbarsten Orte im ganzen Land.
Doch zurück nach Pakistan. Sowohl die Gegend um Chaman als auch das Gebiet um Torkam werden von Paschtunen-Clans bevölkert. Diese Gemeinschaften waren über Jahrhunderte hinweg unabhängig. Ebenso lange behauptet sich mit ihnen die Tradition von Schmuggel und Bandenkriminalität, Diebstahl und Entführung. Da kann es kaum überraschen, dass die pakistanischen Autoritäten, vorrangig die Polizei, dem nur wenig entgegensetzen und bestenfalls eine eingeschränkte Kontrolle über diese Gebiete ausüben.
Immer in Todesangst
Die beiden beschriebenen Routen sind so unberechenbar wie gefährlich. Am 27. März sprengte ein Selbstmordattentäter eine Moschee in der Nähe des Khyber-Passes in die Luft und tötete dabei mindestens 24 Menschen. Im vergangenen Dezember gelang es den Taliban, auf einen Schlag 160 NATO-Fahrzeuge in einem Depot zu zerstören; im März sprengten Militante entlang des Khyber-Passes eine Brücke; vergangene Woche griffen zwei Männer auf einem Motorrad einen LKW an, der eine Baumaschine für Kabul geladen hatte.
Aber die Straßen-Guerilla ist es nicht allein, die Versorgungskonvois der NATO empfindlich stört. So wurde der Khyber-Pass im vergangenen September geschlossen, weil die regionalen Autoritäten damit gegen Raketenangriffe der US-Truppen auf pakistanische Grenzzonen protestieren wollten. Im Januar blockierten Mitglieder von Stammesgemeinden die wichtigsten Straßen der Khyber Agency – der Grund: eines ihrer Mitglieder war bei einer Polizeirazzia ums Leben gekommen.
Man sollte die Fahrer der Trucks nicht vergessen, die sich den hochgefährlichen Touren aussetzen. Alle verspüren die gleiche Beklemmung: „Wir haben immer Angst um unser Leben, aber was kann ich machen? Ein Job ist ein Job”, sagt einer der Fahrer, der entlang der Straße nach Chaman eine Pause eingelegt hat, um eine Tasse Tee zu trinken. „Immer wieder sterben Trucker bei Angriffen auf die Kolonnen, in denen sie unterwegs sind, oder werden entführt.“
700 Dollar Schutzgeld pro Ladung
Eine zusätzliche Schwierigkeit besteht darin, dass nur die wenigsten Fahrzeuge wirklich versichert sind. „Wir haben viele Klagen gegen die NATO und die pakistanische Regierung angestrengt, aber unsere Fahrer und Unternehmen sehen keine einzige Rupie”, sagt Noor Khan Niazi, Präsident eines Industriellenverbandes in Karatschi, der auch viele Speditionen vertritt, die Auftragnehmer der NATO sind. Die Unternehmen seien dazu übergegangen, als Fahrer nur noch Angehörige der Clans einzustellen, die das Gebiet um Chaman und Torkum kontrollieren. „Wir zahlen bis zu 35.000 Rupien (etwa 700 Dollar – die Red.) Schutzgeld pro Wagenladung”, sagt ein Fuhrunternehmer.
Einige der Konvois fahren mit bewaffnetem Eskorten, in letzter Zeit geht die pakistanische Armee verstärkt gegen mit den Taliban sympathisierende Gangs und Gruppen vor, doch genützt hat das wenig. An den Angriffen ändert sich nichts. Denn die Gotteskrieger des Mullah Omar wissen eines sehr genau: Die Versorgungskonvois sind die Achillesferse einer modernen und mächtigen Armee, der sie auf konventionellem Wege niemals ein ebenbürtiger Gegner sein können.
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