In der New York Times stieß ich auf einen Artikel, in dem der Kolumnist Nick Bilton davon erzählt, wie er vor kurzem Leute zum Essen eingeladen hatte und dann plötzlich eine SMS erhielt: „Hey, wie ich sehe hast Du Gäste. Was dagegen, dass ich vorbeikomme?“ Mr. Bilton fragte sich zunächst, woher der Dritte von seinem Abendessen wusste. Dann warf er einen Blick auf seine Gäste und brachte schließlich in Erfahrung, dass diese „im Laufe des dreistündigen Essens sieben Bilder auf Path und sechs auf Instagram gepostet, sechs Tweets versendet (fünf mit Fotos) und zwei von ihnen sich bei Foursquare angemeldet hatten. Als ich mir überlegte, wie viele Leute meinen Gästen zusammen folgten, dann brachte es meine kleine Dinnerparty möglicherweise auf mehr Zuschauer als The Late Show auf CBS: über drei Millionen.“ (Zwei seiner Gäste haben besonders viele Follower auf Twitter.) Ein paar Tage später sagte ihm jemand, der noch nie die Schwelle seiner Wohnung überschritten hatte, in einem geschäftlichen Telefongespräch, wie gut ihm die Lampen über dem Küchentisch in Biltons Küche gefallen hätten.
Willkommen in unserer sozial vernetzten Welt. Mit am erstaunlichsten ist, wie ansonsten durch und durch zurechnungsfähige, ausgeglichene und intelligente Leute nicht nur ihr Urteilsvermögen, sondern auch den Verstand verlieren, wenn sie die Möglichkeit erhalten, mittels Twitter, Facebook, Foursquare, Path, Instagram und all den anderen Diensten oder Plattformen etwas öffentlich zu machen. Während ich diese Zeilen geschrieben habe, wurde mein Twitterstream aktualisert. „Ich bin im U-Bahnhof Leicester Square (London)“, twittert einer der (normalerweise zurechnungsfähigen, ausgeglichenen, …) Menschen, denen ich folge. Ich sehe bei Foursquare nach, weil dieser Mensch dort angemeldet ist: „xxx hat sich am U-Bahnhof Leicester Square London eingecheckt“, blubberte es dort, um aufgeregt hinzuzufügen, dass xxx damit sieben „Punkte“ dafür erhalten habe, eine zentrale U-Bahnstation gefunden zu haben. Drei Punkte waren für „das erste Mal am U-Bahnhof Square“ und vier für das „erste Touristmusinformationscenter!“
Einchekschlachten um den Bürgermeisterposten
Sollten Sie es noch nicht kennengelernt haben: Bei Foursquare dürfte es sich wohl um die bescheuertste GPS-Applikation handeln, die bislang erfunden wurde. Registrierte User können sich an einem bestimmten Ort „einchecken“ und werden dafür mit „Punkten“ und manchmal auch mit „Abzeichen“ belohnt. (Ich denke mir das nicht aus.) Man kann bei der Anmeldung auch einstellen, dass seine Eincheck-Errungenschaften automatisch auf Twitter oder Facebook gepostet werden.
Wenn Sie sich öfter an einem bestimmten Ort einchecken als irgendjemand sonst dies im Laufe der vergangenen sechzig Tage getan hat, dann werden sie zum „Bürgermeister“ dieses Ortes ernannt. Während ich dies schreibe, dürften wahre Eincheck-Schlachten um die Stadthalterschaft der Location um den dritten Mülleimer am Ausgang der U-Bahnstation Waterloo ausgefochten werden.
Wenn Sie das an die Sammelspiele erinnert, die Fünfjährige mit Karten, Pokémon-Zubehör und anderem Tand spielen, dann haben Sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Die Sache ist nur, dass laut Wikipedia gegenwärtig 20 Millionen Erwachsene bei Foursquare mitmachen. Man fragt sich wirklich, ob es nicht an der Zeit ist, die Sache mit den Bürgerrechten zu überdenken: Sollte diese Leute wirklich wählen dürfen? Dabei handelt es sich bei Foursquare lediglich das verrückteste Extrem dieser Manie nach Selbstoffenbarung.
Mobil gewordener Vorhang
Als ich über Nick Biltons Geschichte nachdachte, erinnerte ich mich plötzlich an Erving Goffmans großartiges Buch Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag von 1959, das ich als Student Ende der Sechziger las. Goffman verwendet theatralische Metaphern, um die Interaktionen der Menschen zu beschreiben. Im alltäglichen Leben, argumentiert er, seinen wir alle Schauspieler, die in mehrere Rollen schlüpfen. Das Publikum bestehe aus den Leuten, mit denen wir interagieren. Und wie im Theater gebe es auch im Leben einen Vorhang: Wenn er oben ist, spielen wir eine oder mehrere Rollen – wenn er fällt, können wir wieder wir selbst sein.
Goffmans war völlig auf die direkten, persönlichen Zusammentreffen des sozialen Lebens ausgerichtet, wie sie vor dem Zeitalter des Internet allein üblich waren. Damals war es wirklich noch möglich, hinter die Bühne zu gehen und man selbst zu sein. Das ist es auch heute noch, aber heute muss man schon sein Telefon ausschalten und den egoistischen Versuchungen des Social Networking und standortbezogener Dienste widerstehen. Und, hey! – wenn Sie das machen, laden die Leute sie vielleicht auch wieder zum Abendessen ein!
Kommentare 8
Wenn ich den Artikel richtig verstehe, sieht er die Sache so: Es gibt Dinge, die tun manche Leute, obwohl andere Leute diese Dinge völlig sinnlos finden. Sie lassen sich dabei sogar zuschauen, von wiederum ganz wildfremden anderen Menschen. Solche Leute sollten nicht wählen dürfen.
Fußballer z.B., Performance-Künstler, Spaziergänger, Hundebesitzer.
Ich denke, dass sich manche Menschen bei Freunden und beim Essen nicht angemessen benehmen können, hat nichts mit dem Internet und GPS zu tun.
Ich finde diesen Artikel auch viel zu schwarz/weiß-malerisch, besser: schwarz-malerisch. Man kann all das Neue, welches das Internet bringt, offen analysieren und einordnen, oder man kann es komplett ablehnen. Auch wenn ich das vielleicht jetzt nicht sagen sollte: Dass der Autor Ende des Sechziger studiert hat (als alles noch so schön analog war), hat mich nicht gewundert.
Dies ist der völlige Klartraum eines Generals der Staatssicherheit!
Der im Zusammenhang mit sozialen Netzwerken schon pflichtschuldige Stasi-Vergleich war zu erwarten. Doch leider verfängt er auch dieses Mal nicht. Im Gegensatz zum Spitzelsystem des DDR-Unrechtsstaats, deren Akronym für Denunziation, Diktatur und Repression stand und steht, handelt es sich bei der Nutzung Foursquares wie auch Facebooks und Twitters gerade nicht um einen staatlichen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht, sondern um eine freiwillige Handlung.
Die Nutzung sozialer Medien ist dem Bereich der Sozialsphäre zuzuordnen. Dies ist der Bereich, in dem man mit anderen Menschen interagieren will oder muss. Man kann aber auch versuchen, sich von allem und jedem abzukapseln. Dies geschieht auf freiwilliger Basis und zur Unterhaltung.
Darüber hinaus dienen soziale Medien fast ausschließlich als Werbeplattformen, d.h. man will uns ständig irgendetwas Nutzloses andrehen, nicht aber jede Regung eines jeden Menschen sofort an Geheimdienste melden, weil man heimlich alte Modern-Talking-CDs bestellt hat.
Die Nutzung derartiger sozialer Medien ist allenfalls infantil, eine Bedrohung der Demokratie stellen diese nicht dar.
Übrigens: Wer auf den Gebrauch sozialer Medien nicht verzichten, aber möglichst wenig mit Werbung belästigt werden will, sollte Präferenzen für Gewerkschaften, Politik und Minderheitenrechte erkennen lassen. Dann hält die Werbeflut sich in Grenzen. Denn das Soziale ist sozialen Medien fremd. Die auf Unterhaltung programmierten Algorithmen sind damit nicht kompatibel.
Abschließend sei gesagt, dass stille Statusmeldungen immer noch angenehmer sind, als beim öffentlichen Mithören von Gesprächen ungefragt mit den Banalitäten seiner Mitmenschen vollgedröhnt zu werden.
Ich habe persönliche Erfahrungen mit der Stasi und bleibe bei meiner Aussage, die Möglichkeiten in einer Diktatur werden beachtlich sein!
Ja, mit Sicherheit. Andererseits vermindert meines Erachtens die Vernetzung zwischen den Menschen die Möglichkeit einer Diktatur massiv. Wenn du Menschen untereinander frei kommunizieren können, dann sind sie kaum zu unterjochen...
Das sehe ich auch so, es sind zwei wiederstreitende Kräfte, die Frage ist welchge Kraft gewinnt!
Volle Zustimmung! Nur weil man dieses Verhalten affig oder dumm findet, muss man Menschen, die den digitalen Exhibitionismus praktizieren, nicht das Wahlrecht entziehen.