Sonst droht Krieg

Venezuela Was denkt Nicólas Maduros ehemaliger Stabschef über die Krise des Landes? Hier erzählt er es
Ausgabe 06/2019
Wer meint, Chávez’ Nachfolger habe sich nur mit Korruption und Gewalt im Amt halten können, irrt gewaltig
Wer meint, Chávez’ Nachfolger habe sich nur mit Korruption und Gewalt im Amt halten können, irrt gewaltig

Foto: Yuri Cortez/AFP/Getty Images

Seit Hugo Chávez’ Tod 2013 gärt in Venezuela eine Krise, deren jüngste Episode darin besteht, dass sich Juan Guaidó selbst zum „Übergangspräsidenten“ ernannt hat. Als solchen erkennen ihn nunmehr nicht nur die USA, Kanada sowie einige rechte lateinamerikanische Regierungen an, sondern unter anderem auch Spanien, Deutschland und Großbritannien. Die Trump-Regierung hat milliardenschwere venezolanische Vermögenswerte in den USA beschlagnahmt, weitere Sanktionen gegen Nicolás Maduros Regierung verhängt und kaum mit der Androhung einer militärischen Intervention hinter dem Berg gehalten. Statt derart einen blutigen Bürgerkrieg in Venezuela zu riskieren, empfiehlt sich vielmehr ein genauer Blick auf die Entstehung der heutigen Krise.

Guaidós Gesicht

Juan Guaidó etwa gilt fälschlicherweise als „neues Gesicht“. Er trat 2007 erstmals öffentlich in Erscheinung – als einer der Studierenden, die die Proteste gegen Chávez’ Sozialismus anführten, obwohl dieser bei den Wahlen 2006 einen Erdrutschsieg gefeiert hatte. Während die Armen ihn verehrten, waren sich urbane Mittelschicht, soziale Eliten und traditionelle Parteien immer einig in ihrem Hass auf Chávez. Juan Guaidó zählt zu jenem Teil der Opposition, der die vom Volk ausgehende Legitimität Hugo Chávez’ immer – und selbst zu dessen Hochzeiten – in Frage gestellt hat. Als der weit weniger durchsetzungsfähige Maduro übernahm, intensivierte die Opposition ihre Strategie, dem Staatspräsidenten seine Legitimität abzusprechen. Sein unterlegener Gegenkandidat Henrique Capriles bezeichnete den Urnengang 2013 als Betrug – ohne je dafür Beweise vorzulegen. Unterstützer rief Capriles dazu auf, ihrem „Ärger“ auf den Straßen Luft zu machen, was einige Chávistas das Leben kostete.

Guaidós Partei Voluntad Popular rief im Januar 2014 zum Aufstand, um Maduro aus dem Amt zu drängen, in das er erst neun Monate zuvor gewählt worden war. Von der ökonomischen und sozialen Krise, wie sie Venezuela heute so schwer zeichnet, war damals noch keine Spur, der Ölpreis befand sich Anfang 2014 auf einem Rekordhoch, Venezuela verzeichnete das höchste je erreichte Pro-Kopf-Einkommen. Keine Frage: Als dann die ökonomischen Probleme heraufdämmerten, reagierte die Regierung Maduros falsch. Investitionen und Umverteilung ließen sich nun nicht mehr so leicht durch die Öl-Einnahmen finanzieren. Es misslang, die Produktion zu erhöhen, und an raschen Reformen der Wirtschaft zeigte Maduro kein Interesse. Im Juni 2014 brach der Ölpreis ein. Das Land war darauf schlecht vorbereitet, wirkte geradezu handlungsunfähig, bald sank der Lebensstandard. Zwar blieb der Chávismus unter Maduro eine breite organisierte politische Bewegung, verlor aber ihre Vorherrschaft. Ende 2015 erlitt sie bei den Parlamentswahlen eine demütigende Niederlage, die der Opposition sogar eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament bescherte.

Seither sind Konfrontation und Polarisierung, wie sie Venezuela stets und auch unter Chávez gekennzeichnet haben, institutionalisiert: Die Legislative fokussierte sich ganz darauf, den Präsidenten seines Amtes zu entheben, die Exekutive sowie die Teile der Judikative, die aufseiten der Regierung stehen, versuchten derweil, das Parlament zu entmachten. Parallel zum so nie da gewesenen Einbruch des Lebensstandards, erlebte Venezuela nun Phasen, in denen jeglicher politische Dialog fehlschlug und es mitunter zu tödlicher Gewalt kam. Die Regierung ging auf zunehmend autoritäre Weise mit einer zunehmend undemokratischen Opposition um, was das Misstrauen auf beiden Seiten nährte. Vor diesem Hintergrund fanden die Präsidentschaftswahlen im Mai 2018 statt – völlig legal, aber politisch unwirksam: Die großen Oppositionsparteien verweigerten ihre Teilnahme.

Hinzu kam der Rechtsruck in wichtigen Staaten Lateinamerikas sowie Donald Trumps Wahl zum Präsidenten der Vereinigten Staaten. Die USA und ihre Verbündeten begannen nun, den Chávismus als kriminelle Vereinigung, nicht als politische Bewegung, und die Regierung des Landes als Feind, nicht als Gegner zu behandeln.Sanktionen wurden verhängt, im August 2017 war das Land praktisch vom Zugang zu den internationalen Kapitalmärkten abgeschnitten, was den Niedergang seiner Ölindustrie beschleunigte. Genau dieser Ansatz aber schluf fehl: Maduro konnte sich nun ganz und gar als Opfer imperialistischer Aggression darstellen. Potenzielle Herausforderer Maduros, gerade aus den Reihen der Chávisten und des Militärs, wurden dadurch eher ent- als ermutigt.

Maduros Macht

Nun könnte Juan Guaidós Selbstausrufung katastrophale Folgen zeitigen. Sofern die internationale Gemeinschaft keinen Krieg auf dem amerikanischen Kontinent riskieren will, muss sie alles daran setzen, die Voraussetzungen für einen nationalen Dialog in Venezuela zu schaffen, um so eine politische Lösung der Krise zu finden. Aus demokratischer Sicht ist der Status quo genauso unbefriedigend wie Juan Guaidós Forderungen; eine Garantie für Frieden und Sicherheit jedenfalls sähe anders aus.

Wer meint, Nicolás Maduro habe sich während der vergangenen sechs Jahre nur mit Korruption und Gewalt im Amt halten können, irrt gewaltig – und ignoriert, dass der Chávismo, jenseits des Präsidenten, eine Bewegung mit Millionen von vor allem einkommensschwachen Unterstützern und zudem stark im venezolanischen Militär verankert ist.

Den gegenwärtigen Konflikt kann eine Neuwahl des Parlaments nur dann lösen, wenn ihr eine nationale Verständigung zugrunde liegt, deren Zustandekommen die internationale Gemeinschaft versuchen kann zu unterstützen, wenn sie sich als Moderator versteht. Die Initiative Mexikos und Uruguays, alsbald eine internationale Konferenz einzuberufen, verdient ebenso vollste Unterstützung wie die Entscheidung der Europäischen Union, eine Kontaktgruppe aus europäischen und lateinamerikanischen Staaten anzuführen. Es sollte den Venezolanern erlaubt sein, ihre Probleme selbst demokratisch, friedlich und souverän zu lösen.

Temir Porras Ponceleon war unter anderem außenpolitischer Berater von Hugo Chávez und Nicolás Maduros Staabschef. Er lehrt heute an der Hochschule Sciences Po in Paris

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Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

Temir Porras Ponceleon | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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