2008, während der Finanzkrise, sagten viele voraus, der Zusammenbruch des Projekts einer europäischen Währungsunion stehe vor dem Zusammebruch. Sie irrten sich. Der Euro hielt. Doch was jene Krise nicht vermochte, könnte Covid-19 nun bewerkstelligen: den Kollaps der Eurozone.
Deren Architektur war vor etwas mehr als einem Jahrzehnt schlecht auf eine globale Bankenkrise vorbereitet. Und heute ist die Lage in vielerlei Hinsicht noch schlimmer. Denn mit der Coronakrise geht wahrscheinlich nicht nur ein schwererer ökonomischer Schock einher, nein, diese Krise ist zudem in erster Linie eine fiskalische, keine monetäre Herausforderung. Eben damit trifft sie die zentrale Schwachstelle der Eurozone.
2008 stand der Bankensektor im Zentrum der Krise. Die Europäische Zentralbank (EZB) konnte gegen jenen Brand kämpfen, indem sie den Finanzmärkten Liquidität zur Verfügung stellte und die Banken stützte – die wichtigsten Instrumente zur Verteidigung waren geldpolitische Instrumente. Jetzt aber, in der Coronakrise, geht es darum, Krankenhäuser zu bauen, Beatmungsgeräte und Gesichtsmasken herzustellen und Hilfen für Unternehmen und Menschen zu organisieren – das kann nicht die EZB erledigen. Das ist Aufgabe nationalstaatlicher Fiskalpolitik.
Die wirtschaftlichen Auswirkungen von Covid-19 treffen alle Mitglieder der Eurozone. Aber es gibt keinen Mechanismus, der es den Regierungen der Mitgliedsstaaten erlaubt, gemeinsam auf einen solchen Schock zu reagieren. Folglich sind die politischen Reaktionen auf die Pandemie bisher überwiegend nationale – was die Unterschiede in Europa eher noch verstärkt als den Kontinent in einer Krisenzeit zusammenzubringen. Sogar im Angesicht eines symmetrischen Schocks reagiert die Eurozone asymmetrisch.
Dass sich die finanzpolitischen Bedingungen der einzelnen Mitgliedsstaaten teils stark unterscheiden, führt schon jetzt dazu, dass Regierungen sehr unterschiedlich auf die Lage reagieren. Je länger die Krise dauert, desto deutlicher werden eben diese Unterschiede sichtbar werden. Nicht alle Länder werden im gleichen Maße in der Lage sein, ihre Volkswirtschaft überlebensfähig zu halten. Dies wird mit der Zeit eine politische Dynamik auslösen, die die Eurozone wieder an den Rand des Abgrunds bringen kann.
Deutschland hat schnell und entschlossen auf Covid-19 reagiert, gab seine – den Regierenden eigentlich so wichtige – Schuldenbremse auf und verabschiedete ein 750-Milliarden-Euro-Rettungspaket für die deutsche Wirtschaft. Italien, das Land mit den meisten Infektionen und Todesfällen durch das Virus, hat nicht den gleichen Spielraum: Das Rettungspaket dort beläuft sich auf nur 28 Milliarden Euro – knapp vier Prozent des Umfangs der deutschen Maßnahmen.
Wenn die Spreads wachsen
Diese erhebliche Diskrepanz wird durch die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen noch verschärft: 2019 lag die industrielle Produktion Italiens immer noch vier Prozent niedriger als 2007, während das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 16 Prozent über dem damaligen Wert lag. Aufgrund des anhaltenden BIP-Einbruchs wird sich die italienische Staatsschuldenquote bald einem Wert von 150 Prozent des BIP nähern, auch ohne neues Rettungspaket. Trotz des vergleichsweise geringen Ausmaßes der italienischen Rettungsmaßnahmen müssen die dortigen Entscheidungsträger bereits jetzt auf die Zinsdifferenz zwischen italienischen und deutschen Staatsanleihen achten. Das kann nervös machen: Der Abstand hat sich in den vergangenen Wochen deutlich vergrößert.
Die Zeichen der Zeit sind klar erkennbar: Ohne die Solidarität der anderen Mitglieder der Eurozone wird Italien nicht in der Lage sein, auf die Krise so zu reagieren, wie andere Länder es können. Es droht eine wirtschaftlichen Depression, zusätzlich zur humanitären Katastrophe.
Die Eurozone läuft nun Gefahr, die gleichen Fehler zu wiederholen, die vor etwas mehr als einem Jahrzehnt gemacht wurden. Die späten, zaghaften Reaktionen der europäischen Regierungen auf dem Höhepunkt der letzten Krise kamen die Wirtschaft teuer zu stehen. Politische Maßnahmen wurden in der Regel erst ergriffen, als das Haus bereits in Flammen stand. Wenn die EZB eingriff, um Zeit zu gewinnen, wurde die zusätzliche Zeit in den europäischen Hauptstädten meist verschwendet.
Eine ähnliche Dynamik war jetzt wieder zu beobachten. Nach anfänglichem Zaudern kündigte die EZB ein dramatisches neues Programm zum Aufkauf von Anleihen an, um die europäischen Märkte zu stabilisieren. Die Reaktion in den europäischen Hauptstädten war jedoch vorhersehbar: Als sich die Märkte beruhigt hatten und die Anleihenspreads zwischen den Ländern zurückgegangen waren, schien es bald nicht mehr so dringend und notwendig, gemeinsam fiskalische Maßnahmen in Angriff zu nehmen. Jedes Land richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf seine nationalen Rettungspakete.
Doch Europa braucht eine gemeinsame fiskalische Antwort auf die Covid-19-Krise. Alle Länder der Währungsunion müssen in der Lage sein, das Notwendige zu tun, um auf die Katastrophe im öffentlichen Gesundheissektort zu reagieren. Zwei Optionen liegen auf dem Tisch.
Die beste Lösung
Die beste Lösung wäre die gemeinsame Ausgabe von einmaligen Anleihen mit langen Laufzeiten. Die Schaffung solcher Euro-Anleihen würde ein starkes Signal der Solidarität angesichts einer Krise aussenden, für die keine Nation verantwortlich gemacht werden kann. Es gibt sogar einen historischen Präzedenzfall für einen solchen Schritt: Die Europäische Gemeinschaft hat in den 1970er Jahren Anleihen ausgegeben, um den wirtschaftlichen Schock der Ölkrise gemeinsam zu bekämpfen.
Eine andere Möglichkeit, aber die mit Abstand nur zweitbeste, wäre die Nutzung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) – der Institution, die zur Bewältigung der letzten Krise geschaffen wurde. Einzelne Länder könnten unter leichten Auflagen ESM-Kredite beantragen. Doch nur Länder, die Gefahr laufen, den Marktzugang zu verlieren, werden die Bedingungen akzeptieren, und die innenpolitischen Kosten dieses Vorgehens könnten untragbar hoch sein. Das Design des ESM verkörpert all das Bedenkliche aus der letzten Krise – als es viel um moralisches Fehlverhalten und finanzpolitische Besonnenheit ging. Der ESM ist nicht die richtige Institution für einen Notfall, an dem niemand schuld ist.
Was wir brauchen, ist ein eindeutiges Signal des gegenseitigen Vertrauens und der Lastenteilung innerhalb der europäischen Familie. Dem Vernehmen nach mittlerweile 14 von 19 Regierungschefs der Euro-Zone – aus Belgien, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Luxemburg, Portugal, Slowenien, Spanien, Lettland, Litauen, Estland, Zypern und der Slowakei – fordern die Ausgabe eines gemeinsamen Schuldtitels, also einer gemeinsamen Anleihe, um die Mittel zur Bekämpfung der Pandemie zu beschaffen. Das ist der richtige Weg.
Dies ist eine Zeit der europäischen Solidarität. Wenn der Kontinent jetzt nicht zusammensteht, wird sich das europäische Projekt vielleicht nie wieder erholen.
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