Stimmen von innen

Griechenland Viele Syriza-Wähler sind im Zweifel, ob sie Alexis Tsipras nach dessen Kehrtwende noch folgen können
Ausgabe 37/2015
Bekommt Premierminister Tsipras noch einmal eine Chance?
Bekommt Premierminister Tsipras noch einmal eine Chance?

Foto: Louisa Gouliamaki/AFP/Getty Images

Lydia Markou und Petros Xenios fehlt es wie so vielen Studenten nicht an Idealismus. Sie wollen die Welt verbessern, am liebsten gleich in Athen und damit in der Stadt anfangen, die der Demokratie einst ihren Namen gab. „Wir wollen Hoffnung auf eine bessere Zukunft“, sagt der 20-jährige Xenios. „Wir hatten wirklich geglaubt, dass uns Syriza diese Hoffnung gibt, doch wir haben uns getäuscht.“ Als Alexis Tsipras mit seiner linken Parteienallianz Ende Januar die Regierung übernahm, erschien die Stimmung geradezu überschwänglich. Nur allzu gern wollte man den Worten des neuen Premiers glauben, die Zeiten von Austerität und Arbeitslosigkeit seien vorbei. Man werde mit den Gläubigern verhandeln und bessere Konditionen herausholen.

„Man hatte das Gefühl, unser bankrottes Land erhält noch einmal eine Chance“, erinnert sich Lydia Markou, die wie Xenios an der Universität von Athen Psychologie studiert. „Ich habe Tsipras nicht einfach gewählt, sondern das mit Freude getan.“

In der Politik können sieben Monate eine lange Zeit sein. Schon als der Ex-Regierungschef die Griechen Anfang Juli aufforderte, bei dem von ihm anberaumten Referendum gegen die Forderungen der Kreditgeber zu stimmen, konnte die 21-Jährige ihm nicht mehr recht folgen. Seit sich Syriza dann dem Diktat der Gläubiger beugte, um teilweise die Politik fortzusetzen, gegen die sie im Januar angetreten war, ist sich die Studentin nicht sicher, wem sie bei den Neuwahlen am 20. September ihre Stimme geben soll. „Alexis Tsipras hat so ziemlich alles getan, was er zuvor kategorisch ausgeschlossen hatte“, moniert sie.

Patt mit der Nea Dimokratia

Mit diesem Fazit ist Lydia Markov nicht allein, wie sich den Umfragen zwei Wochen vor dem Votum entnehmen lässt. Der sich abzeichnende Trend dürfte Tsipras überrascht haben. Nicht nur Syriza verliert in den Umfragen – es schwindet auch der Rückhalt für seine Person. Eine von Skai TV in Auftrag gegebene Studie der Universität in Thessaloniki resümiert, dass die Beliebtheitswerte des Syriza-Chefs um mehr als die Hälfte – von 70 auf 30 Prozent – gefallen sind, seit auch er weiter erhöhte Steuern, gekürzte Sozialausgaben und den Verkauf öffentlicher Güter für alternativlos hält. Die Werte von Syriza selbst fielen nach einer von der linken Tageszeitung Syntakton in Auftrag gegebenen Erhebung auf 23 bis 24 Prozent. Stattliche 25 Prozent der Befragten gaben an, sich noch nicht entschieden zu haben. Laut Meinungsforschungsinstitut Metron Analysis ist der Abstand zwischen Syriza und der Altpartei Nea Dimokratia (ND) mittlerweile auf gerade noch ein Prozent geschrumpft. Andere Stimmungsbilder verzeichnen ein Patt – 27 Prozent für ND und Syriza. Beim Votum am 25. Januar hatte das Linksbündnis mit 36,3 Prozent noch klar vor den Konservativen mit 27,6 Prozent gelegen.

Die Wahrscheinlichkeit, dass Syriza eine absolute Mehrheit der Mandate verfehlt, setzt das Land einmal mehr einer ungewissen Zukunft aus. Da Tsipras bisher eine Kohabitation mit den Parteien des „alten Establishments“ verweigert, könnte ein zweiter Wahlgang nötig sein, bevor ein neues Kabinett vereidigt werden kann. Dies wiederum würde es Analysten zufolge verhindern, rechtzeitig Reformen anzugehen, denen Athen als Gegenleistung für das dritte Kreditpaket (86 Milliarden Euro) zugestimmt hat. „Für die griechische Wirtschaft wäre das eine absolute Katastrophe“, sagt ein EU-Diplomat. „Die Euro-Staaten haben zwar im Juli entschieden, Griechenland in der Eurozone zu halten, doch dessen Zukunft bleibt prekär. Die Ökonomie stirbt vor sich hin. Politische Stabilität ist das Mindeste, was man braucht.“

Keine Racheengel

Tsipras hatte sich zu Neuwahlen entschlossen, da feststand, dass ihm 25 Syriza-Parlamentarier auf Dauer die Gefolgschaft aufkündigen. Ein erneuter Wahlsieg schien ein Leichtes zu sein. Doch hatte das Syriza-Establishment die Geltungsmacht der Parteilinken offenbar ebenso unterschätzt wie die Reaktion Hunderttausender junger Griechen, die unter der Rekordarbeitslosigkeit leiden. Ihnen wird bei der Abstimmung am 20. September eine Schlüsselrolle zukommen. „Tsipras hat die Wahlen ausgerufen, als wir die Folgen der Maßnahmen, denen er zugestimmt hat, noch nicht zu spüren bekamen“, meint Markov und fügt hinzu, dass sie die Verhandlungstaktik der Syriza-Regierung mit den Kreditgebern aufgeregt habe. „Das war blanker Hohn.“

Tag für Tag gibt es Übertritte zur neuen, vom Syriza-Dissidenten Panagiotis Lafazanis geführten Partei der Volkseinheit, die eine Rückkehr zur Drachme will. Keine Frage, dass eine solche Sezession polarisiert und von schriller Rhetorik orchestriert wird. Den Prognosen zufolge können die Syriza-Rebellen mit sechs bis acht Prozent rechnen. „Syriza hat einfach alle roten Linien überschritten, als das dritte Memorandum geschluckt wurde“, sagt Costas Isychos, Sprecher von Volkseinheit. „Wir wollen keine Rache nehmen, sondern dafür sorgen, dass auch weiterhin eine Alternative zur Politik der neoliberalen Elite existiert. Was wir jetzt haben, ist ein neokolonialer Konsens, der Griechenland dazu zwingt, sein öffentliches Vermögen von den Airports bis zu den Inseln zu opfern, nur um den Euro behalten zu dürfen.“ Warum müsse das Land noch einmal Jahre selbstzerstörerischer Sparpolitik hinnehmen, fragt Isychos. „Die Eurozone ist ein politischer und ökonomischer Raum, der so konstruiert ist, dass Deutschland laufend Überschüsse und die Länder der Peripherie laufend Defizite erwirtschaften. Das wird für Griechenland nie funktionieren.“ Mit solchen Aussagen versichern sich die Abtrünnigen eines Protestpotenzials, dessen Protagonisten davon überzeugt sind: Das Land in der Ägäis unterscheide sich von anderen Krisenstaaten, die wieder hoffen dürfen.

„Alexis Tsipras ist noch immer beliebt“, glaubt Thanos Dokos, der die Denkfabrik Eliamep leitet. „Er war der entscheidende Politiker. Ohne ihn hätte es die 61,3 Prozent Nein-Stimmen beim Votum am 5. Juli nicht gegeben. Vielleicht hat er die Opposition unter seinen eigenen Leuten unterschätzt. Aber es würde mich nicht total überraschen, wenn ihm die Griechen am 20. September noch einmal eine Chance geben.“

Helena Smith ist Guardian-Korrespondentin für Griechenland und die Türkei

Übersetzung: Holger Hutt

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Geschrieben von

Helena Smith | The Guardian

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