Tansanias Bevölkerung wird bis 2050 pro Jahr um zwei bis drei Prozent wachsen
Ostafrika Zu lange wurde aus Gründen der Tradition auf eine vom Staat geförderte Familienplanung verzichtet. Frauen bringen hier vier bis fünf Kinder zur Welt – damit nimmt die Bevölkerung dreimal schneller zu, als dies im Schnitt weltweit geschieht
Während des Berufsverkehrs ist im Stadtviertel Mbagala in Daressalam die Hölle los. Am Intercity-Busbahnhof sind die Fahrzeuge mit Berufspendlern hoffnungslos überfüllt. Eine nicht abreißende Menschenmenge schiebt sich über Plätze und Straßen. Es geht vorbei an scheinbar endlosen Reihen eng nebeneinander aufgereihter Straßenstände, an denen Kleidung und Schuhe, Obst und Gemüse, gegrillte Hähnchen, Steaks und Maniok angeboten werden. Der Klang lauten Hupens vermischt sich mit den Rufen der Verkäufer, die ihre Waren anpreisen. Übertönt wird das Ganze von Lautsprecheransagen der Behörden, die an das Verbot erinnern, Waren direkt am Straßenrand anzubieten und dafür nicht die reservierten Marktstände
de zu nutzen.Mbagala ist ein Viertel, in dem kleine Händler ihr Glück versuchen. Sie profitieren von Zehntausenden ihrer Landsleute, die jeden Tag diesen Distrikt passieren. Aber sie beklagen, wie sehr dieses Stadtquartier mit übermäßiger Verkehrsbelastung, vermehrter Kleinkriminalität und riesigen Abfallbergen zu kämpfen hat, von denen die Umwelt in Mitleidenschaft gezogen wird.Als jüngst bekannt gegeben wurde, dass die Weltbevölkerung so gewachsen sei, dass die Acht-Milliarden-Marke überschritten wurde, war unstrittig, dass daran auch Tansania mit seinem Wachstum Anteil hat. Dessen Bevölkerung ist nach jüngsten Zahlen der Vereinten Nationen seit 2012 um 37 Prozent auf fast 63 Millionen Menschen angewachsen. Der Trend ist ungebrochen: Prognosen zufolge wird bis 2050 ein jährlicher Zuwachs von zwei bis drei Prozent erwartet. Damit gehört Tansania zu den acht Ländern, die für mehr als die Hälfte der Zunahme verantwortlich zeichnen, wie sie der Weltbevölkerung für die kommenden drei Jahrzehnte vorhergesagt wird. Fünf dieser Staaten liegen auf dem afrikanischen Kontinent.Laut UN-Prognose wird sich allein die Bevölkerungszahl im subsaharischen Afrika bis zur Mitte des Jahrhunderts auf mehr als zwei Milliarden Menschen belaufen. Die Region überträfe damit die Zuwachsrate des globalen Durchschnitts um das Dreifache. 2070 wird sie Asien hinter sich lassen und die bevölkerungsstärkste Gegend weltweit sein. Schon jetzt hat Afrika, verglichen mit den anderen Kontinenten, die jüngsten Bewohner. Das kann, sagen Experten, ein Segen, aber auch ein Fluch sein, sollte mehr Armut grassieren – je nachdem, wie die Länder im Einzelnen in der Lage sein werden, die 20- bis 35-Jährigen als Chance für Prosperität und Wohlstand zu nutzen.Lebenserwartung 66,8 JahreDie frühere tansanische Hauptstadt Daressalam ist eine der am schnellsten wachsenden Städte der Welt. Es wird erwartet, dass sich die Einwohnerzahl dieser Metropole bis 2050 auf mehr als zehn Millionen Menschen summiert, was sie in eine Reihe mit Megacitys wie Kinshasa in der Demokratischen Republik Kongo, Lagos in Nigeria und Kairo in Ägypten stellen würde. Angesichts solcher Prognosen schlagen die politischen Führer Tansanias Alarm. Erst im Oktober sprach sich Präsidentin Samia Suluhu Hassan für eine bessere Familienplanung aus, da die hohe Geburtenrate übermäßigen Druck auf das Bildungssystem, die Gesundheitsfürsorge und die Ernährungssicherheit ausübe. Im Augenblick liegt die sogenannte Fruchtbarkeitsrate mit durchschnittlich 4,66 Geburten pro Frau doppelt so hoch wie der globale Mittelwert.Mit welchen Konsequenzen die Bevölkerung expandiert, können die Bürger Daressalams bereits heute an ihren Lebensumständen ablesen. Wegen einer Dürre war das Wasser zuletzt wochenlang rationiert. Die Behörden sprachen von einer Situation, die „der Kontrolle durch die Regierung entglitten ist“. Einige Hospitäler und Schulen der Stadt waren mit Wasser und Strom unterversorgt. Und es kam hinzu, was gerade ganz Ostafrika zu schaffen macht: Mehr Menschen brauchen mehr Nahrungsmittel, doch die sind knapp.Präsidentin Hassans 2021 verstorbener Vorgänger John Magufuli hatte den Gebrauch von Verhütungsmitteln diskreditiert. Jeder, der Familienplanung betrieb, wurde als „faul“ bezeichnet – als jemand, der davor zurückschrecke, hart und regelmäßig zu arbeiten, um eine große Familie zu ernähren. Magufuli griff auf jahrzehntelang wirkende Maßnahmen zurück, zum Beispiel blieb es jungen Müttern verwehrt, nach einer Schwangerschaft an eine Berufsschule zurückzukehren. Sie sollten der Familie zur Verfügung stehen. Zudem setzte Magufuli über Jahre hinweg jede Finanzierung für Familienplanung aus. „Es war eine Zeit, in der Einfluss auf das Bevölkerungswachstum nicht geschätzt wurde“, sagt Suzana Mkanzabi, Exekutivdirektorin der Organisation UMATI, die sich für sexuelle und reproduktive Rechte einsetzt. Immerhin habe sich das unter der jetzigen Regierung erkennbar geändert.Placeholder infobox-1Nachdem die Lebenserwartung in Tansania wegen der Corona-Pandemie leicht gesunken war, stieg sie 2022 für beide Geschlechter auf geschätzte 66,8 Jahre, ein hoher Wert für Afrika. Ungeachtet dessen hat Magufulis Politik langfristige Auswirkungen. Laut UN-Daten ist der Großteil des Bevölkerungswachstums in den kommenden 30 Jahren die Folge von Weichenstellungen, die in der Vergangenheit vorgenommen wurden. Die derzeitigen Bemühungen, das Bevölkerungswachstum einzudämmen, werden demnach erst 2050 spürbar sein. Kulturell gesehen sind größere Familien hoch angesehen und werden geschätzt. Viele Kinder garantieren in einem Land mit kaum vorhandenen sozialen Sicherheitsnetzen die Versorgung im Alter. Bei einer Bevölkerungsstruktur, bei der fast die Hälfte unter 15 oder über 65 Jahre alt ist, kämpft Tansania folglich mit hohen familiären Abhängigkeitsraten. Zum einen gibt es weniger steuerzahlende Bürger als in einem Land mit mehr jüngeren Erwachsenen, sprich: über 30-Jährigen. Außerdem ist ein wesentlicher Teil der Bevölkerung vom anderen Teil abhängig. Das setzt der ökonomischen Mobilität der Jüngeren Grenzen, da sonst viele Ärmere und Ältere Schwierigkeiten hätten, über die Runden zu kommen.Regierung unter ZugzwangDie 34-jährige Esther Stephano Orio lebt in Daressalams Stadtteil Temeke und hat fünf Kinder. Wäre ihr mehr über Verhütung bekannt gewesen, erzählt sie, hätte sie ihr erstes Kind lieber später bekommen. Ihre Geschichte erklärt die hohe Rate von Teenager-Schwangerschaften, die es auch deshalb gibt, weil der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen beschränkt ist und viele der Betroffenen den Kurpfuscherinnen im Hinterhof ausgeliefert sind. Dass viele Kinder gar nicht erst geboren werden, wirkt wie ein Fluch gegen die Armut, die sie erwartet. „Die Politik des Landes ist nach wie vor sehr konservativ“, meint UMATI-Chefin Mkanzabi, deren Organisation Unterstützung nach einer Abtreibung anbietet. „Es ist höchste Zeit, dass sich die Regierung mit dem Pro und Contra der Unterbrechung von Schwangerschaften beschäftigt.“ Mit 20 Jahren Mutter zu werden, bedeutete für Orio, dass sie beruflich nicht vorankam. Sie entschied sich, Lehrerin zu werden, obwohl ihr Berufswunsch eigentlich Krankenschwester war. Nur musste sie befürchten, dass es die Arbeitszeiten nicht zulassen würden, gleichzeitig Kinder großzuziehen.Laut UN ist ein schneller Bevölkerungszuwachs sowohl „Ursache“ als auch „Folge“ von Rückständigkeit. Ursachen für die geringe Nutzung moderner Verhütungsmethoden seien ein niedriger Bildungsstand, eine konservative Sexualerziehung, Falschinformation zu den Auswirkungen von Verhütung auf die Fruchtbarkeit sowie ein patriarchales Umfeld, das dem männlichen Partner zu viel Einfluss darauf gibt, ob verhütet wird oder nicht. Idealerweise hätte Orio drei oder vier Kinder gehabt, aber ihr Mann wollte eine größere Familie. Überdies sollte sie unbedingt einen Jungen bekommen. Orio und ihr Mann, der ein eigenes Unternehmen führt, können die Kinder versorgen, freilich mit Einschränkungen. So werden nur zwei von ihnen auf eine private Schule geschickt, deren Ausbildungsstandard besser ist als der staatlicher Lehranstalten.Bei der jüngeren Generation Tansanias sei die Nachfrage nach Verhütungsmitteln inzwischen größer, erklärt Sheila Macharia, Ostafrika-Leiterin von FP2030, einer globalen Partnerschaft für Familienplanung. Zwar hätten viele jüngere Frauen weiterhin recht große Familien, doch nutzten sie Verhütungsmittel, um Geburten aus wirtschaftlichen, gesundheitlichen oder Karrieregründen zu verschieben. Tendenziell hätten Frauen in den Städten weniger Kinder als Frauen, die auf dem Land leben. Angesichts des absehbaren Bevölkerungsanstiegs wird auch der Regierung nichts anderes übrig bleiben, als Familienplanung eine entschieden höhere Priorität einzuräumen. Gegenwärtig werden pro Jahr umgerechnet 5,7 Millionen Euro für Geburtenkontrolle ausgegeben. Um die Lücke zum Mehrbedarf zu schließen, ist man auf externe Gebermittel angewiesen, die momentan allerdings ausbleiben. Egal, ob sich das ändert oder nicht – die Regierung verspricht, ihr Budget für Familienplanung bis 2030 jährlich um zehn Prozent zu erhöhen. Es müsste viel mehr sein, sagen unisono all jene Gruppen, die sich für eine regulierende Familienpolitik einsetzen.Placeholder authorbio-1
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