Pop-Musik beeinflusst uns nie wieder so stark wie als Teenager. So kommt es, dass sich viele später nach Hits zurücksehnen, die objektiv betrachtet einem schlechten Pop-Jahrgang entstammen – 1960, 1975 oder 1997 –, nur weil sie damit eindrückliche Erinnerungen verbinden. 1966 aber ist anders. Kaum jemand würde bestreiten, dass es sich um eines der wichtigsten Jahre des Pop handelt, unabhängig davon, ob man es selbst erlebt hat oder nicht. Es war der Wendepunkt des Jahrzehnts, 1966 brachte die größten Umwälzungen und Innovationen hervor.
Der Wandel hatte bereits seit 1963 an Fahrt aufgenommen – jenem Jahr, in dem nicht nur die Beatles, sondern auch Tamla Motown und die Beach Boys ihren Durchbruch erlebten. Die Haare der Pilzköpfe wurden länger, Liebeslieder aus den Plattensammlungen aussortiert, durch bewusste Kreuzungen und zufällige Kollisionen entstand fast im Wochentakt etwas Neues. Die Popkultur (insbesondere Kunst, Film und Musik) entwickelte sich nun so rasant, dass der große Knall unausweichlich schien.
Der Pop-Theoretiker Jon Savage war 1966 13 Jahre alt, also dürfte er sich lebhaft an diese Zeit erinnern. Mit seinem Standardwerk England’s Dreaming (1991), der bis heute besten Geschichte des Punk, widmete sich Savage schon einmal einer ähnlich dynamischen Zeit. Mit seinem vorigen Wälzer Teenage (2007), in dem Savage die Wurzeln der Teddy Boys, Skins, Goths und Mods bis ins New York und London des ausgehenden 19. Jahrhunderts nachverfolgte, hat 1966 die Art und Weise gemein, wie er die Geschichte umkrempelt. Während Teenage chronologisch aufgebaut ist, irritiert Savage uns bei 1966 aber gleich zu Beginn. Anstatt mit einem Hit aus dem Januar einzusteigen – meinetwegen Day Tripper von den Beatles oder Keep on Running von der Spencer Davis Group –, beschäftigt er sich über mehrere Seiten hinweg mit einer obskuren Band aus Birmingham namens The Ugly’s und ihrem nervigen Anti-Atom-Song The Quiet Explosion.
Männer tanzen mit Männern
Mit dieser sehr speziellen Songauswahl untermauert Savage seine nicht minder eigenwillige These, 1966 habe es kaum noch Gewissheiten gegeben, die Schatten von Vietnam und die Bedrohung eines Atomkriegs hätten „einen Morast aus Angst, Verwirrung, Resignation, Hoffnungslosigkeit und Wut“ erzeugt. Das habe Konservative ebenso betroffen wie Revolutionäre. Savage greift Karel Reisz’ Film Protest heraus, der für ein Publikum vermarktet wurde, das die Jugend, die Mode und den neuen Wohlstand des Swinging London feiern wollte. Der Film verfolgt, wie der proletarische Künstler Morgan (David Warner) langsam an seiner Ehe mit einer Frau aus der oberen Mittelschicht (Vanessa Redgrave) zerbricht, weil sich die neu entdeckte Klassenlosigkeit mit seiner marxistischen Erziehung nicht verträgt.
Die schwindenden Gewissheiten und die neue Sprache des Pop öffneten Räume, in denen Frauen sowohl zu Produzentinnen als auch zu Konsumentinnen werden konnten. Savage verweist auf die Erfolgsgeschichte der Modemarke Biba und die ITV-Pop-Show Ready Steady Go!, er hebt aber auch den Mangel an prominenten Frauen in der Bürgerrechtsbewegung hervor. Wie befreit waren weibliche Popstars 1966 denn wirklich, als der Begriff Sexismus noch nicht einmal existierte und Frauen ohne die Zustimmung ihres Gatten kein Bankkonto eröffnen durften? Man darf auch nicht vergessen, dass das, was heute als die Mode der 60er bekannt ist, damals bei weitem nicht die Norm war und vielen als sonderbar galt. Dusty Springfield brach mehr als nur einmal unter dem Druck zusammen. Selbst in einem Café, sagte sie, habe die Öffentlichkeit jede Bewegung ihrer Gabel akribisch beäugt.
Amphetamine ließen Stars wie Springfield strapaziöse Touren überstehen, neue Drogen kamen auf. LSD war zu Beginn des Jahres zwar bereits alles andere als unbekannt, aber immer noch „so neu, dass es kaum Regeln gab“. Es verschaffte Empfindungen „jenseits dessen, was die meisten Menschen zu begreifen imstande sind“. Anfang 1966 war die Droge sogar noch legal. Im April veröffentlichte die US-amerikanische Band The Dovers eine Single über Acid. Ihr Song The Third Eye war eine kaum gefilterte Erfahrung, ein Fenster in eine andere Welt, eher beängstigend als erleuchtend. Wie sollten Teenagermagazine wie Fabulous und Rave auf Songs reagieren, die von Acid und den Erfahrungen damit erzählten? Die meisten, wenn nicht sogar alle Autoren dieser Hefte hatten es nie selbst ausprobiert. Aufgrund des großen Interesses an der neuen Substanz filmte die BBC im Juli für ihre Nachrichtensendung 24 Hours auf einer LSD-Party. Die Zeitung The People bekam das Material in die Finger, bevor die Doku ausgestrahlt wurde, und berichtete über den skandalösen Umstand, dass unter Einfluss von Acid „Männer mit Männern tanzten“.
Während die LSD-geschwängerte, prophetische Meditation Tomorrow Never Knows von den Beatles kaum zu deuten war, spiegelten einige der erfolgreichsten Platten des Jahres die Geschwindigkeit des Wandels durch ihr Tempo. Für den Soul lässt sich Wilson Picketts halsbrecherisches Land of 1.000 Dances anführen, für den L.-A.-Hardrock Seven and Seven Is von Love, ein 90-sekündiges Schlagzeug-Inferno, begleitet von bellendem Geschrei, das seinen Höhepunkt in einer Atomexplosion findet. Andere versuchten die Zeit anzuhalten (Balladensänger wie The Seekers und Val Doonican waren 1966 ein Riesending) oder gar zurückzudrehen, so jedenfalls erklärt Jon Savage den außerordentlichen Erfolg des 20er-Jahre-Potpourris Winchester Cathedral der New Vaudeville Band.
Savage ist stark, wo er auf die Überraschungshits des Jahres zu sprechen kommt. Winchester Cathedral bekam den Grammy für den besten Song und schlug damit Good Vibrations von den Beach Boys und Reach Out I’ll Be There von den Four Tops. In den USA war die meistverkaufte Single das heute weitgehend vergessene Ballad of the Green Berets von Staff Sergeant Barry Sadler. Protesthits gegen den Vietnamkrieg hatte es zuvor bereits gegeben, allen voran Barry McGuires Eve of Destruction im Herbst 1965. Sadlers Platte aber markierte den Moment, von dem an der Krieg nicht mehr nur Langhaarige und Folk-Fans interessierte und von keinem mehr ignoriert werden konnte. Im Text wünscht sich der sterbende Soldat, sein Sohn möge ihm als Green Beret nachfolgen. „Als Ausdruck der Mentalität eines Soldaten“, schreibt Savage, „sucht der Song seinesgleichen.“ Sadlers Platte half mit, Präsident Lyndon B. Johnsons Zustimmungswerte auf 67 Prozent anzuheben – da kann man sehen, welches Potenzial in billiger Musik steckt.
Unheimlicher Krampf
1966: The Year the Decade Exploded ist spannend und extrem gut zu lesen, da Savage im besten Sinne ein Pop-Autor ist. Er ist schnell und auf den Punkt, er verschwendet keine Worte: John Leytons von Joe Meek produziertes Johnny Remember Me ist ein „unheimlicher Krampf“, und über James Browns außergewöhnlichen Song Tell Me That You Love Me schreibt er: „Die Worte sind nichts, auf sie kommt es nicht an. Sondern auf die Art, wie Brown den Beat vorantreibt, als ob ihm alles nicht schnell genug ginge.“ Savage ist der Ansicht, dass „die Kehrseite dieses chaotischen Durcheinanders den verborgenen Kern dieses Jahres offenbarte“ und dass dieser in der „alles durchdringenden, aber gleichzeitig auch zerbrechlichen Traurigkeit“ von Tim Hardins How Can We Hang On to a Dream? zu finden sei. Hardins Meisterstück war nur auf Piratensendern ein Hit, doch die Düsternis und der Zweifel färbten auch auf die Charts ab.
Wenn die Weihnachtshits vergangener Jahre in Erinnerung gerufen werden, sticht Tom Jones’ Green, Green Grass of Home immer heraus wie ein bunter Hund. Wie war es möglich, dass ein triefender Country-Song über einen Mann, der in das Zuhause seiner Kindheit zurückkehrt, zum Jahreswechsel 1966/67 sieben Wochen lang die Charts anführte? Zwei Wochen bevor der Song veröffentlicht wurde, kamen beim Grubenunglück von Aberfan in Südwales über 100 Kinder ums Leben, ganz Großbritannien befand sich im Schockzustand. In einer Zeit vor Band Aid und anderen Benefiz-Alben war der Kauf von Green, Green Grass of Home Ausdruck des Gedenkens und der Anteilnahme. Der Song, schreibt Savage, verband John Fords Bergarbeiterdrama How Green Was My Valley (1941) mit einem Grabgesang.
Diesen Zusammenhang hat meines Wissens noch niemand hergestellt. Das ist nicht nur feinster Pop-Journalismus, sondern Sozialgeschichte erster Kajüte. Man kann nur hoffen, dass Jon Savage mit der Arbeit an 1967 bereits begonnen hat.
Info
1966: The Year the Decade Exploded von Jon Savage ist bei Faber & Faber erschienen
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