Gewalt gegen Migranten: „Dann musst du deine Organe verkaufen“
Honduras Auf ihrer Flucht in Richtung Nordamerika werden Migrant:innen oft von kriminellen Banden entführt, die dann von den Angehörigen hohe Lösegelder erpressen. Tausende Menschen verschwinden spurlos. Die Behörden unternehmen nichts dagegen
Genau 23 Tage nachdem ihre Tochter und Enkeltochter das Zuhause in Tegucigalpa verlassen hatten, klingelte das Telefon von Sandra Lopez. Ein Unbekannter sagte, die beiden seien entführt worden. Um sie lebend wiederzusehen, müsse gezahlt werden. Lopez’ Tochter Rosa war auf der gefährlichen Reise Richtung USA unterwegs, um Arbeit zu finden, als sie gekidnappt wurde. Wie sie und ihre Tochter verschwinden Tausende, von denen manche nie wieder auftauchen.
„Der Anruf war ein Schock“, erzählt Sandra Lopez. „Ich konnte nicht schlafen, nicht essen. Ich war nur verzweifelt.“ Rosa war über ein Jahr arbeitslos, nachdem sie ihren Job in einer Textilfabrik wegen der Coronapandemie verloren hatte. Sie wollte sich zu ihrem Mann in den USA durchschlagen
chschlagen, um dort zu arbeiten und ihre Mutter in Honduras zu unterstützen, die im Rollstuhl sitzt. Der schickten die Kidnapper täglich mehrere Whatsapp-Nachrichten mit der Aufforderung, 10.000 Dollar Lösegeld zu zahlen. „Ich schrieb zurück, ich würde in einem Haus leben, das mir nicht gehört. Dass ich behindert sei und einen Rollstuhl brauche. Woher sollte ich das Geld nehmen?“ Die Entführer hatten eine Antwort parat: „Wenn du nicht zahlen kannst, mach etwas, damit du es kannst. Dann musst du deine Organe verkaufen für deine Leute. Wenn nicht, werden die bald nicht mehr auf dieser Erde sein.“Die Zahl derer, die Honduras verlassen, steigt ständig. Das Land kämpft mit ökonomischen Folgen der Pandemie, steigenden Kosten für Lebensmittel, mit Bandengewalt, Armut und Klimawandel. Der vermeintliche Ausweg, in die USA zu gehen, ist voller Gefahren. Entweder überleben die Migranten die Wüstenregionen Mexikos nicht oder sie werden bei Straßenunfällen getötet oder sie sterben einen grausigen Tod im „Biest“, einem Frachtzug, der Mexiko durchquert. Manche werden von der Polizei festgenommen, andere zu Opfern krimineller Banden, für die Migranten vor allem eine Möglichkeit sind, um Geld zu machen. „Es gibt hier in Honduras viele Faktoren, die Leute zur Migration zwingen“, sagt Rolando Sierra, Direktor für Sozialwissenschaften an der Autonomen Universität in Tegucigalpa. „In Honduras herrschen in hohem Maß Gewalt, Korruption und Straflosigkeit. Solange sich das nicht ändert, wird die Auswanderung nicht abnehmen.“ Es lasse sich nicht genau sagen, wie viele Leute Honduras verlassen. Sierra schätzt, dass es pro Jahr im Schnitt 130.000 bis 150.000 sind. Laut offiziellen Angaben schickten die US-Behörden von Januar bis Juni 2022 34.278 Honduraner in ihr Heimatland zurück, mehr als die Hälfte der 52.968, die 2021 auf das Jahr gesehen abgeschoben wurden. Zugleich dokumentiert die Internationale Organisation für Migration (IOM), dass zwischen Januar 2014 und März 2022 mindestens 6.141 Honduraner entlang der Migrationsrouten nach Norden ums Leben kamen oder verschwanden. Mittlerweile gibt es in Honduras fünf Komitees, die Vermisste aufspüren sollen und von etwa 3.500 Menschen ausgehen, von denen teilweise seit Jahren jedes Lebenszeichen fehlt.„Ich habe keine Wahl“Wie viele andere, die nach Angehörigen suchen, wusste Sandra Lopez zunächst nicht, an wen sie sich wenden sollte, um Hilfe zu bekommen. „Es existiert keine Regierungsinstanz, keine Behörde, die sich mit ungeregelter Migration befasst.“ Es fehle eine Datenbank Vermisster, um das Phänomen sichtbar zu machen, meint Jérémy Renaux, Koordinator des Programms für Verschwundene beim Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (ICRC). Die Familien müssten gewaltige Hürden nehmen, um einen Fall überhaupt zu melden. In Mexiko, wo so viele Menschen abhandenkämen, sei allein die Kriminaltechnik heillos überfordert. „Mehr als 52.000 nicht identifizierte Leichen liegen dort in Massengräbern oder in der Gerichtsmedizin.“ Weil das so ist, hat Eva Ramirez das „Comité de familiares de migrantes desaparecidos Amor y Fe“ gegründet, ein Netzwerk aus Aktivisten, Journalisten und zivilgesellschaftlichen Organisationen in ganz Mittelamerika, das bei der Suche nach Vermissten hilft. Inzwischen sind auch Psychologen dabei, die mentalen Beistand leisten. Eva Ramirez’ Arbeit ist unbezahlt und hart, sie sagt: „Menschen haben ein Recht darauf, dass nach ihnen gesucht wird. Wir müssen wissen, was mit ihnen passiert ist. Nur dann widerfährt ihnen Gerechtigkeit. Schließlich verlassen die Leute ihr Land nicht, weil sie wollen, sondern weil sie es müssen – vertrieben von extremer Armut und extremer Gewalt.“Für Sandra Lopez erwies sich das Netzwerk als hilfreich. Eva Ramirez empfahl ihr und ihrem Schwiegersohn in den USA, von den Kidnappern einen Beweis dafür zu verlangen, dass die Entführten noch leben. Und als es beiden gelungen war, das Lösegeld von Freunden und Nachbarn zu leihen, riet sie, von den Entführern zu fordern, dass sie Rosa und ihre Tochter zu den Migrationsbehörden an der Grenze zwischen Mexiko und den USA bringen. Das Geld schickten Lopez und ihr Schwiegersohn per Überweisung und warteten dann voller Anspannung. „Ich habe ständig angerufen und darum gebeten“, so Lopez, „dass sie meine Tochter und Enkeltochter den Einwanderungsbehörden übergeben. Ich weinte. Ich bettelte und wusste, dass es den beiden nicht gut ging. Wie sollte es?“Und dann kam endlich die erlösende Nachricht. Die beiden waren frei und wurden nach Honduras abgeschoben. Jetzt ist Rosa in Sicherheit. Ihre Mutter weint, wenn sie sich vorstellt, was sie alles durchgemacht hat. Die Schulden, die nötig waren, konnte die Familie bisher nicht zurückzahlen. Rosa sagt: „Ich werde wieder versuchen, in die USA zu gehen. Ich weiß, dass es gefährlich ist, aber ich habe keine Wahl.“Placeholder infobox-1
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