Tiefes Loch

USA Joe Biden steckt in der Afghanistan-Falle. Der Krieg dort ist ein tiefes Loch, das von anderen gegraben wurde
Ausgabe 11/2021
Der US-Präsident kann die Gewalt als politische Herausforderung betrachten, für die Afghanen bleibt sie eine Frage von Leben und Tod
Der US-Präsident kann die Gewalt als politische Herausforderung betrachten, für die Afghanen bleibt sie eine Frage von Leben und Tod

Foto: ZUMA Wire/IMAGO

Von allen Fallstricken und Zeitbomben im Ausland, die Donald Trump hinterlassen hat, sind die afghanischen vermutlich die gefährlichsten. Joe Biden muss in den kommenden Tagen entscheiden, ob er sich an das Friedensabkommen seines Vorgängers mit den Taliban hält und bis Ende April alle US-Truppen abzieht. Er wird in dem Bewusstsein handeln, dass es am Hindukusch keinen Frieden gibt, keinen tragfähigen Deal und keine einfache Antwort. Alle Optionen – jetzt aussteigen oder die Präsenz der US- und NATO-Truppen um sechs Monate verlängern oder sogar auf unbestimmte Zeit bleiben – sind mit Risiken behaftet.

Jede Entscheidung Bidens kann falsch sein, egal, welche es ist. Eine wurde im Weißen Haus bereits getroffen, die einem Friedensprozess nicht zum Vorteil gereicht: Die Gespräche zwischen den Taliban und afghanischen Regierungsgesandten in Doha sind bis auf Weiteres unterbrochen.

Dieser Krieg ist ein tiefes Loch, das von anderen gegraben wurde. Der US-Präsident kann die Gewalt als politische Herausforderung betrachten, für die Afghanen bleibt sie eine Frage von Leben und Tod. UN-Zahlen für 2020 zeigen einen Anstieg der Gewalt, seit Donald Trump keinen Zweifel ließ, dass er zum Rückzug entschlossen war. In den letzten drei Monaten des Vorjahres wurden 2.792 Zivilisten zu Opfern von Attentaten oder Kampfhandlungen, 891 davon kamen ums Leben. Die Wohltätigkeitsorganisation „Save the Children“ resümiert, dass zwischen 2005 und 2020 mindestens 26.000 Kinder getötet oder verstümmelt wurden – das heißt durchschnittlich fünf pro Tag.

Zugleich nahmen 2020 die Anschläge auf Aktivisten der Zivilgesellschaft, Regierungsangestellte und Journalisten, besonders Frauen, zu. Knapp 20 Jahre nachdem Präsident Bush in Afghanistan einmarschieren ließ, ist eine durch Demokratisierung in Aussicht gestellte innere Befriedung eine von so vielen Tatsachen widerlegte Utopie. Was sollte sich daran ändern, wenn Biden beschließt: „Wir bleiben.“?

2010 hatte Barack Obama den verzweifelten Versuch unternommen, durch eine extrem hochgefahrene Truppenstärke den Krieg doch noch zu gewinnen. Auch das ging zulasten der Zivilbevölkerung, allein die Zahl der seinerzeit durch amerikanische und alliierte Luftangriffe getöteten Nichtkombattanten stieg um mehr als das Dreifache. Diese verheerende Bilanz ließ immer mehr Afghanen mit den Taliban und deren Auffassung sympathisieren, dass sich dieser Krieg nur beenden lasse, wenn alle ausländischen Militärkontingente verschwinden würden.

Es ist das Eingeständnis, quasi unverrichteter Dinge gehen zu müssen, das die westlichen Regierungen den unvermeidlichen Abgang noch einmal aufschieben lässt, um vorerst durchzuhalten. Biden nennt das „den Krieg verantwortungsvoll beenden“, ein womöglich folgenschweres Ansinnen, denn dieser Militäreinsatz ist in den USA alles andere als populär. Eine Mehrheit will den Abzug und würde die Besatzungskosten lieber für die Corona-Bekämpfung einsetzen. Es gibt keinen Weg zurück auf Los, hin zu einem letztlich klaren Sieg, die Gefahr einer ungebremsten militärischen Eskalation allerdings schon.

Simon Tisdall ist Kolumnist des Guardian

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Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

Simon Tisdall | The Guardian

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