Tolerierte Intoleranz

Nordirland Die Paraden des protestantischen Oranier-Ordens provozieren die gewaltsamsten Reaktionen seit langem. Diesmal spielt auch der Bloody-Sunday-Report eine Rolle

Man mag es den Beobachtern der Lage in Nordirland nachsehen, wenn sie die Ausschreitungen anlässlich der Paraden des Oranier-Ordens als bloßes Déjà-Vu empfinden, aber nachdem die Marsch-Saison im Vorjahr relativ glimpflich verlief, hat die Heftigkeit der jüngsten Zusammenstöße viele doch überrascht. Die diesjährigen Paraden der protestantischen Nordiren zum Gedenken an den Sieg Wilhelm III. von Oranien gegen das irisch-katholische Heer des Stuart-Königs Jakob II. 1690 folgten nur kurz auf die Veröffentlichung des Saville-Berichtes, der die Opfer des Bloody Sunday von 1972 in Derry in vollem Umfang rehabilitierte. Opfergruppen und Nationalisten begrüßten den Bericht. Auch der neue britische Premier David Cameron erkannte das Dokument in würdiger Weise an und entschuldigte sich formell bei den Opfern und deren Familien. Doch fanden sich am Tag der Veröffentlichung nur zwei Vertreter der Unionisten – Reg Empey und Gregory Campbell – für Kommentare bereit. Beide äußerten sich kritisch über die Kosten der jahrelangen Untersuchung sowie die Gefahr, dass eine „Hierarchie der Opfer“ geschaffen werde, ohne dabei die Ergebnisse des Berichtes anzuerkennen. First Minister Peter Robinson bleibt somit der einzige Politiker aus den Reihen der Loyalisten, der den Report öffentlich anerkannt hat.

Eine Mehrheit ist dagegen

Dabei hätte das mehrere tausend Seiten starke Dokument den Unionisten eine großartige Gelegenheit zur Versöhnung geboten. Da sie verschenkt wurde, ist die Kluft zwischen Katholiken und Protestanten wieder ein Stück weiter vertieft. Dass die Protestanten die sich ihnen bietende Chance ausschlossen, folgte dem vorhersehbaren nordirischen Muster. Es bleibt bei der unkritischen Übernahme des Paradigmas der „zwei getrennten Communities“, die dazu geführt hat, dass die politische Debatte weiterhin entlang der altbekannten sektiererischen Fronten verläuft, ungeachtet der neuen historischen Beweise, die Lord Saville mit seiner Untersuchungskommission vorgelegt hat.

Eine der unheilvollen Folgen dieser notorischen Unfähigkeit, den Weg der Konzilianz einzuschlagen, stellt das Aufkommen republikanischer Splittergruppen dar. Die Verantwortung für die Gewaltausbrüche aber allein der Real IRA und anderen militanten Gegnern des Friedensprozesses zuzuweisen (wie Sinn Féin und andere dies getan haben), verstellt den Blick auf die weit verbreitete Ablehnung der Oranier-Märsche in der gesamten katholischen Bevölkerung. Der Oranier-Orden ist eine ausgesprochen sektiererische Organisation, die sich einer Bewahrung der protestantischen Vormachtstellung in Nordirland verschrieben hat. Dies wird bei den Debatten um die umstrittenen Aufmärsche grundsätzlich ignoriert – es geht hier nicht um einen Konflikt zwischen zwei gleichermaßen extremistischen Fraktionen.

Gemeinsame Geschichte

Anstatt der sektiererischen Grundlage des Oraniertums aktiv entgegenzuwirken, wurde von Seiten des Establishments vielmehr versucht, die Oranier als ganz normale Organisation darzustellen und zu touristischen Zwecken zu vermarkten. Dies macht es oft erforderlich, dass die Berichterstattung über die Märsche in den Medien systematisch Zusammenhänge ignoriert. So folgte etwa in der Lokalberichterstattung der BBC auf einen Bericht über die gewaltsamen Zusammenstöße eine Sendung mit dem Titel The Twelfth, in der die Paraden als eine Art nationaler Karneval dargestellt und jeder Verweis auf die Gewalt, die sie provozieren, unterschlagen wurde.

Die Gewalt vom 12. Juli zeigt die Vergeblichkeit der Bemühungen, in einer tief gespaltenen Gesellschaft an einer friedlichen Zukunft arbeiten zu wollen, ohne etwas gegen die Grundlage dieser Spaltung zu unternehmen. Es ist Wahnsinn, Katholiken und Protestanten darin zu bestärken, an ihren jeweils eigenen, miteinander konkurrierenden Versionen einer in Wahrheit gemeinsamen Geschichte festzuhalten und exklusive kulturelle Veranstaltungen einer Seite – wie die Oranier-Märsche – mit öffentlichen Mitteln zu unterstützen. Anstatt die Intoleranz zu tolerieren, müssen Politiker und Medien die Ursachen der Teilung der nordirischen Gesellschaft (getrennte Schulen, Wohnbezirke, kulturelle Aktivitäten) thematisieren. Wenn sich die Szenen der vergangenen Tage nicht wiederholen sollen, müssen wir endlich mit dem Projekt beginnen, die Grundlagen für eine zwar viel und oft gepriesene, aber immer noch schwer fassbare gemeinsame Zukunft zu schaffen.


Übersetzung: Holger Hutt

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Geschrieben von

Claire Heaney | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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