Totale Gleichsetzung

Litauen Nazismus und Kommunismus sind die Zwillings-Übel des 20. Jahrhunderts. Auf dieses Geschichtsverständnis trifft man in Litauen recht oft

Keiner lebt gern vom Tod umringt. Es ist verständlich, dass die Menschen, die heute auf dem Boden des ehemaligen Ghettos in Kovno leben, nicht permanent daran erinnert werden wollen, dass hier 35.000 Juden eingepfercht wurden, hungerten und schließlich erschossen wurden. So war ich nicht allzu überrascht, als ich feststellte, dass auf der Linkuvos Straße nur ein kleiner Obelisk steht, der den Platz markiert, an dem das Ghetto einst stand. Inmitten des Verkehrs an der belebten Kreuzung, um die herum Väter Kinderwagen schieben und Mütter ihre Einkäufe nach Hause tragen, nimmt man ihn kaum wahr. Nur wenige Worte stehen auf Hebräisch und Litauisch darauf: Keine Opferzahlen, keine Erwähnung des unsäglichen Leides, das sich hier ereignet hat.

Ich verstehe auch, weshalb es keine besonderen Straßenschilder gibt, die Besuchern den kurzen Weg nach Fort IX weisen, wo die Nazis und ihre litauischen Kollaborateure tiefe Gruben schaufelten und an einem einzigen Tag im Oktober 1941 mit der so genannten „Großen Aktion“ beinahe 10.000 Juden, darunter 4.273 Kinder, erschossen. Ich kann verstehen, weshalb es den Menschen in Kaunus lieber ist, wenn Fort IX nur von denen gefunden wird, die extra deswegen in die Gegend gekommen sind.

Erinnerungen sind niemals nur eine Sache der Vergangenheit; sie sind im hier und jetzt umstritten, werden von politischen Interessen überlagert, wie jede andere Sache der Gegenwart auch. An der Stelle von Fort IX steht nicht nur ein massives Mahnmal im Stil des sozialistischen Realismus aus der Sowjetzeit, das der Toten gedenkt, die in diesen Gruben liegen, sondern auch eine neuere Ausstellungshalle, die sich mit der Unterdrückung der Sowjet-Jahre beschäftigt – obwohl der Zusammenhang zwischen dem Ort und diesem Thema bestenfalls dürftig ist.

Natürlich ist mir klar, weshalb die Litauer sich an den Gulag und die Zwangsverbannung nach Sibirien erinnern wollen. Sie ist zeitlich näher als der Zweite Weltkrieg, dauerte länger und betraf Familien, die noch heute in Litauen leben. Davon abgesehen, war es 40 Jahre lang verboten darüber zu sprechen, wodurch das Verlangen nach Gedenken und Anerkennung wuchs.

Seite an Seite

Ich müsste mich schon sehr stark anstrengen, um Empathie für den Ansatz vom „doppelten Genozids“ zu empfinden, der in Litauen und anderen ehemaligen Sowjetstaaten gutgeheißen wird und auf den Gedanken hinausläuft, dass Nazismus und Kommunismus die Zwillings-Übel des 20. Jahrhunderts waren, derer Seite an Seite gedacht werden sollte. Diesen Ansatz verkörpert Fort IX mit seinen zwei Museen, von denen das eine die Schrecken Hitlers, das andere die Verbrechen Stalins dokumentiert.

Es geht hier nicht um einen Wettbewerb – und wenn doch, dann ist es sicherlich keiner, den irgendein Jude gern gewinnen würde. Die Juden wollen und brauchen kein Monopol auf die Trauer. Tränen sind kein beschränktes Gut: es sind genug für alle da. Doch egal wie sehr ich auch versuche, mich hineinzudenken – ich kann der Idee vom „doppelten Genozid“ nicht zustimmen. Besonders dann nicht, wenn ich sehe, wie sie sich, mehr noch als auf die Theorie, in der Praxis auswirkt.

Zum einen führt die Gleichsetzung der Nazi-Verbrechen mit den Verbrechen des Kommunismus meist dazu, dass die Geschichte ersterer nicht wahrheitsgemäß erzählt wird. Die Tafel an der Gedenkstätte Fort IX zum Beispiel identifiziert die Mörder als „Nazis und ihre Gehilfen“. Sie macht nicht klar, dass diese Gehilfen litauische Freiwillige waren, die ihre Mitbürger mit Begeisterung umbrachten. Auf meinen Reisen durch das Land, die mich an eine ganze Reihe solcher Plätze führten, habe ich keinen einzigen gefunden, der über die einfache, harte Wahrheit explizit Auskunft gegeben hätte: dass Litauen zu den Ländern Nazi-Europas zählte, in denen der größte Anteil der jüdischen Bevölkerung ermordet wurde, über 90 Prozent. Die Ermordung der Juden begann am 22. Juni 1941 – bevor Hitlers Männer das Land überhaupt erreichten.


Dazu kommt, dass die theoretische Absicht, eines „doppelten Genozid“ zu gedenken, meist in ein recht einseitiges Gedenken mündet. Nehmen wir nur das Museum für die Opfer des Genozids, gleich neben dem zentralen Gedimino Boulevard in Vilnius. Man sollte meinen, dass ein solcher Ort an jenen Genozid erinnert, zu dessen Zentren auch Vilnuis zählte, namentlich an die Ermordung der Juden. Weit gefehlt. Der Holocaust wird nicht erwähnt. Der Fokus liegt allein auf dem Leid, das der KGB verursacht hat. Im Freien stehen zwei prominente Stein-Mahnmale für die Opfer Moskaus. Wer der 200.000 ermordeten Juden gedenken will, der muss sich weit von der Hauptstraße entfernen, bis er in einer Seitenstraße das winzige Grüne Haus findet – das eigentlich immer wegen Renovierungsarbeiten geschlossen ist und dessen Direktorin unter dem Druck der Behörden um ihren Job kämpfen muss.

Ganz ähnlich verhält es sich mit einer Gesetzesänderung von 2008, die im Namen der Gleichwertigkeit erwirkte, dass nicht nur Nazi-, sondern auch Sowjet-Symbole verboten sind. Und als ob das noch nicht schlimm genug wäre – damit wurde zum Beispiel Veteranen des Widerstands verboten, bei Paraden ihre Auszeichnungen zu tragen –, hat ein litauisches Gericht im Mai entschieden, das Hakenkreuz sei kein Symbol der Nazis, sondern Teil der „baltischen Kultur“ und könne deshalb in der Öffentlichkeit gezeigt werden.

Doch selbst wenn die Behörden sich rigoros um eine Balance bemühen und beide Geschichten ehrlich erzählen würden, würde ich diesen „doppelten Genozid“ immer noch ablehnen. Denn die Symmetrie ist falsch. Es geht nicht darum, wer in der Rangliste der Verfolgten an der Spitze steht, doch es kann nicht sein, dass diejenigen, die „verhaftet, verhört und eingesperrt“ wurden – um das Museum in Vilnius zu zitieren – dasselbe Schicksal erlitten haben sollen wie die ermordeten Juden, auch wenn die Ausstellung sie unter dem schlichten Sammelbegriff „Verluste“ gleichmachen will. Die Unterdrückung der Sowjet-Jahre war kein Genozid: es ist etwas anderes, ob man verhaftet oder erschossen und in eine Grube geworfen wird. Es waren unterschiedliche Vorfälle, und wer etwas anderes behauptet, beraubt den sehr spezifischen Begriff Genozid seiner ganzen Bedeutung.

Jetzt sind wir quitt

Und schließlich hat das ganze Reden über Gleichwertigkeit einen sehr düsteren Unterton. Professor Egidijus Aleksandravicius von der Vytautas Magnus Universität in Kaunas sagte mir, viele Litauer seien der Auffassung, wenn ihre Vorfahren Juden getötet hätten, dann als „Rache“ für das, was ihnen die Kommunisten – beeinflusst von der Lehre der Juden – angetan hatten. Aus dieser Logik heraus, die schon dadurch widerlegt ist, dass die Juden unter der Sowjetherrschaft stärker litten als andere, bedeutet der „doppelte Genozid“ im Prinzip: Ihr habt uns verletzt, wir haben euch verletzt, jetzt sind wir quitt.

Wie konnte dieser giftige Gedanke aufkommen? David Katz, der an der Universität von Vilnius Jiddisch unterrichtete, bis sein Vertrag jüngst nicht mehr verlängert wurde, geht von geopolitischen Ursachen aus: „Es ist wie ein schwerer Stock, mit dem das heutige Russland geprügelt werden kann“, meint er. Litauen möchte, dass seine Partner in der EU Russland als ein Völkermord-Regime betrachten, das keine Entschädigungen erbracht hat.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Christine Käppeler
Geschrieben von

Jonathan Freedland | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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