Totgesagte leben länger

Chicago Mit einem erfolgreichen Streik könnten die Lehrer Chicagos der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung neues Leben einhauchen und die Arbeitskämpfe weltweit beflügeln
Die Lehrer in Chicago sind bereit zu streiken. Wer noch?
Die Lehrer in Chicago sind bereit zu streiken. Wer noch?

Foto: Scott Olson/Getty Images

Vergangenen Monat haben fast neunzig Prozent der Mitglieder der Chicagoer Lehrergewerkschaft (Chicago Teachers Union, CTU) sich für einen Streik ausgesprochen, nur 1, 82 Prozent stimmten dagegen: ein Schock für die Stadtverwaltung.

Chicago ist nicht nur das Herz von Obama-Country, wo von den Gewerkschaften erwartet wird, dass sie in einem Wahljahr mit den Demokraten zusammenarbeiten. Chicago ist auch die Stadt, in der Lehrer dank Bürgermeister Rahm Emanuel Lehrer erst dann streiken dürfen, wenn mehr als 75 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder sich dafür ausgesprochen haben.

Doch nicht nur das lokale Establishement dürfte beunruhigt sein. Die Sache erhält in den USA landesweite Beachtung und ein Streik wäre für Präsident Obama eine peinliche Sache. Entscheidender als das, könnte ein erfolgreicher Arbeitskampf der amerikanischen Arbeiterbewegung zu einer Zeit neues Leben einhauchen, in der es weltweit zu Unruhen kommt und neue soziale Bewegungen entstehen.

Angriffe auf Gewerkschaften

Grundlage der Auseinandersetzung ist eine sogenannte Schulreform. Hinter diesem harmlosen Begriff verbirgt sich in Wahrheit allerdings ein Prozess der Privatisierung und der Zurückdrängung der Gewerkschaften. Chicago ist seit den Neunzigern ein Labor für diese Art von Reformen, die später dann auf das ganze Land ausgeweitet werden. Das Programm genießt sowohl die Unterstützung der demokratischen Führung als auch die von Leuten wie Obama-Unterstützer Davis Guggenheim, der mit seinem Film Waiting for Superman einen lanatmigen Angriff auf die Lehrergewerkschaften fuhr und ein Plädoyer für Privatschulen hielt.

Chicago will im Laufe der kommenden fünf Jahre 60 neue privatisierte „Mietschulen“ eröffnen, die öffentliche Einrichtungen ersetzen sollen. In diese „Charter“-Schools sollen 76 Millionen Dollar investiert werden, die bei den öffentlichen eingespart werden.

Die neue CTU-Führung fährt eine Kampagne, um gegen die chronische Unterfianzierung der öffentlichen Schulen vorzugehen und die Stundenpläne auszuweiten. Sie beschreibt das System als das einer „schulischen Apartheid“ und verlangt einen gewählten Schulausschuss, der die Bedürfnisse der Bevölkerung widerspiegelt.

Die letzte Provokation bestand dann darin, dass die „Reformer“ die Arbeitszeit der Lehrer um 20 Prozent erhöhten und ihnen gleichzeitig die bereits zugesagte vierprozentige Lohnerhöhung halbierten. Sie dachten, sie kämen damit durch, weil die Gewerkschaft von kurzem ein paar „Anfänger“ in ihre Führung gewählt hat.

Der Sieg dieser „Anfänger“ vom Caucus of Rank-and-File Educators (CORE) zeigte aber in Wirklichkeit zweierlei: erstens den Unwillen der Mitglieder, sich so fügsam zu verhalten wie die Führung dies in der Vergangenheit getan hat; zweitens, dass die neuen Führer in der Lage sind, die Basis zu organisieren. Die gleiche Fähigkeit zur Mobilisierung legten sie in einer Reihe von Testabstimmungen und bei öffentlichen Versammlungen an den Tag.

Geld an Polizisten statt Lehrer

Politik und Medien versuchen das Ganze jetzt als rein finanzielles Problem darzustellen. Die Regierung versuche ein Defizit von 700 Millionen Dollar zu schließen. Die Gewerkschaft hat aber durch eine Anfrage im Rahmen des Informationsfreiheitsgesetzes erfahren, dass das Geld, das man den Lehrern bereits versprochen hatte, für die Bezahlung von Polizisten eingesetzt wird, die vor öffentlichen Schulen Streife fahren – eine für die Ära des Neoliberalismus typische Reform: Gelder werden gestrichen und der Staat verlagert seine Tätigkeit vom Sozialen hin zu Kontrolle und Disziplinierung.

Nachdem die Unterstützung der Lehrer gewonnen werden konnte, hängt für die CTU nun viel davon ab, auch die Elternvertretungen hinter sich zu bekommen, die mit den Budget-Kürzungen verärgert wurden. Sie sind jetzt auch das Hauptziel der staatlichen Propaganda. Rahm Emanuel versucht so zu tun, als habe er mit dieser Auseinandersetzung nichts zu tun, hat aber in seinem Bürgermeisterschaftswahlkampf vor zwei Jahren mit eben dieser „Reform“ des Schulwesens geworben. Jetzt schalten seine Verbündeten Anzeigen und Spots, die gegen die Lehrer gerichtet sind und die Eltern dazu auffordern, Druck auf sie auszuüben, damit sie ihr Streikvorhaben aufgeben.

Zusätzliche Verbündete

Die amerikanischen Gewerkschaften haben in den vergangenen Jahren so viele Mitglieder verloren, dass vielerorts nur noch die Beschäftigten im öffentlichen Dienst organisiert sind. Dadurch kann leichter der Eindruck erweckt werden, ihre Kämpfe würden allein sie selbst betreffen. Um Erfolg zu haben, sind sie aber auf Verbündete angewiesen. Sie verfügen über strategischen Einfluss, sind aber zu klein, um den Kampf allein aufzunehmen. Im vergangenen Jahr machten einige Chicagoer Gewerkschaften die Erfahrung, dass die Zusammenarbeit mit der Occupy-Bewegung ihnen haf, sich gegen Angriffe von rechts zur Wehr zu setzen.

Wenn es zum Streik kommt, ist es der erste dieser Art seit 1987. Aber es steht noch mehr auf dem Spiel. Aktivisten sagen, die Auseinandersetzung erinnere an den Patco-Disput. Als die Angestellten der Fluggesellschaft in der Auseinandersetzung gegen Reagan unterlagen, waren die Auswirkungen dieses Rückschlags für die amerikanische Gewerkschaftsbewegung auf Jahrzehnte hinaus zu spüren. Und eine Niederlage wäre in diesem Fall sogar noch schlimmer als damals. Ein Erfolg hingegen würde zumindest teilweise die schwere Niederlage wettmachen, der der Gewerkschaftsbewegung vor kurzem in Wisconsin zugefügt wurde und wäre ein Signal für eine grundsätzliche Veränderung in der amerikanischen Politik. Und noch mehr: Von Sichuan in China bis ins spanische Asturien nehmen die Arbeitskämpfe an Zahl, Breite und Militanz zu. Die Bedeutung der USA ist so groß, dass die Wiederauferstehung der amerikanischen Arbeiterbewegung das Kräfteverhältnis zugunsten der lohnabhängig Beschäftigten auf der ganzen Welt verändern würde.


Übersetzung: Holger Hutt

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Richard Seymour | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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