Glaubt man Martine Pilate, der Autorin vonLa Véritable Histoire de la Pétanque, dann ist ihr Großvater an allem schuld. Um 1900 spielten die Männer von La Ciotat, einer kleinen Küstenstadt in der Provence, wie so viele ihrer Landsleute begeistert eine Version des Boules-Spiels, die als le jeu provençal oder als la longue (denn damals war die Bahn bis zu 20 Meter lang) oder auch als le trois pas (denn die Spieler nahmen damals drei kurze Schritte Anlauf, bevor sie ihre Kugeln warfen) bekannt war. An einem sonnigen Frühjahrstag 1907, warfen einige Longuistes auf der heute legendären Bahn „La Boule Etoilée“ in La Ciotat ihre Kugeln. „Damals konnten Zuschauer Stühle mieten, um das Spiel zu verfolgen“, erzählt Pilate. „Das führte oft zu Problemen, denn die Leute, die in der Nähe der Zielkugel saßen, waren nur allzu oft bereit, die eine oder andere Kugel mit dem Fuß weg oder näher ran zu schieben – je nachdem, was einem Freund gerade nutzte.“
Um dieses unsportliche Verhalten zu unterbinden, wurden zunächst für ein Spiel die Stühle abgeschafft. "Bis auf einen, der Jules 'Le Noir', einem ehemaligen Champion, gehörte. Er litt unter Rheuma und konnte nicht mehr im Stehen spielen, was ihn außerordentlich ärgerte. Also machte mein Großvater ihm einen Vorschlag: 'Wir halbieren die Bahn, zeichnen einen Kreis um deinen Stuhl und dann spielen wir alle von dort, ohne die Füße vom Fleck zu bewegen: a pes tanca.' Und so war die Pétanque geboren."
Die meisten von uns kennen es schlicht als französisches Boule, ein Spiel, bei dem man alte Männer in Schiebermützen und Netzhemden im Schatten von Platanen auf Kiesplätzen in ganz Frankreich beobachten kann, eine Gitanes zwischen den Lippen, eine Flasche Pastis immer in Reichweite. Oder wir kennen es von französischen Zeltplätzen, wo viele der 17 Millionen Franzosen, die diesem Sport frönen sollen, im Sommer ihrer Leidenschaft nachgehen. Vielleicht sind wir ihm auch auf der Kinoleinwand begegnet, vermutlich in irgendeinem Film von Marcel Pagnol.
Luxusversionen und Kugeln für Teenager
Doch dieses Bild ist nicht mehr aktuell. Pétanque ist en vogue. Karl Lagerfeld veranstaltete erst kürzlich ein hochkarätig besetztes Turnier in St. Tropez, bei dem unter anderem Vanessa Paradis und Diane Krüger die Kugeln warfen. Modelabels wie Chanel und Louis Vuitton verkaufen Pétanque-Sets in weichen Lederkoffern für bis zu 1.800 Euro und Frankreichs größte Boules-Manufaktur Obut hat eine neue Linie mit Kugeln im Tattoo-Style für Teenager auf den Markt gebracht.
Doch auch in Großbritannien regt sich etwas. "In den vergangenen Jahren hat das Interesse phänomenal zugenommen", meint etwa der französische Banker Ben Brousson, der seit 12 Jahren in London lebt. Er verweist auf ein großes Turnier des Apéritif-Herstellers Pernod Ricard, das im Juni im Chelsea Physic Garden in London 900 Teilnehmer anzog. "Die kamen nicht einfach nur wegen des Alkohols“, sagt er. „Das waren kluge, trendbewusste junge Leute, Franzosen, Briten, alle Nationalitäten, die mit großem Ernst das Spiel betrieben. Nur etwa fünf bis zehn Prozent der Besucher waren die Omas und Opas, die man als die typischen Pétanque-Spieler im Kopf hat."
Neunhundert Spieler sind allerdings nichts im Vergleich zu den 13.104 Teilnehmern im Alter von 12 bis 84 Jahren, die Anfang Juli zur 49. Auflage des Mondial la Marseillaise à Pétanque, dem größten Pétanque-Turnier der Welt, strömten.
Die Grundprinzipien des Pétanque sind so alt wie die Geschichte selbst. Archäologen haben im Sarkophag eines Ägypters, der 5200 Jahre vor Christus lebte, zwei Kugeln und eine Zielkugel gefunden. Die alten Griechen und Römer spielten gerne mit Steinkugeln; im Mittelalter bevorzugte man in Europa mit Nägeln beschlagene Holzkugeln. In Frankreich war Boules im 14. und 15. Jahrhundert so beliebt, dass es für das gemeine Volk lange Zeit verboten wurde. In England verboten König Edward III. und seine Thronfolger ihren Bogenschützen das Spiel – ein Gesetz, das es „Handwerkern, Arbeitern, Auszubildenden und Dienern“ zu jeder Zeit des Jahres außer zu Weihnachten verbot, wurde erst im 18. Jahrhundert offiziell abgeschafft.
Auf die großartige Erfindung des Großvaters von Martine Pilate – statt mit Anlauf die Kugel aus dem Stand zu werfen – folgte 1910 das erste offizielle Pétanque-Turnier unter den neuen Regeln, 1959 dann fand die erste Weltmeisterschaft statt. Die Fédération Internationale de Pétanque hat heute über 600.000 Mitglieder in 52 Ländern. Mehr als die Hälfte davon sind Franzosen, doch das Spiel ist auch an Orten populär, wo man kaum damit rechnen würde: Königin Sirikit von Thailand etwa, war ein so großer Fan des Spiels, dass Pétanque zu einer offiziellen Wehrsportart der thailändischen Armee wurde.
Es kommt auf animalische Instinkte an
Ein Fehler ist es, dieses Spiel zu unterschätzen: Pétanque ist teuflisch raffiniert. Sein Ziel ist zwar simpel: Einzeln oder in zwei Zweier- oder Dreierteams muss man die eigenen Kugeln (aus Stahl; Größe und Gewicht sind genau festgelegt) möglichst nahe an die Zielkugel (das cochonnet oder: Schweinchen) ranbringen. Doch unterdessen – und das ist der amüsante Teil – ist es erlaubt, ach was, erwünscht, die Kugeln des Gegners wegzustoßen. Und so ist Pétanque ein Spiel, bei dem es auf Geschicklichkeit und Technik ankommt, aber auch auf unsportliches Verhalten, schlechtes Betragen und animalischen Instinkt. Um Kompetenz und Hinterlist. In Frankreich gilt als die übelste Beleidigung, die man einem Pétanque-Spieler an den Kopf werfen kann, er sei „durchschaubar“.
Jedes Team besteht aus "Legern", die das Schweinchen mit ihren Kugeln "küssen" und "Schießer", die versuchen, die gegnerischen Kugeln möglichst weit weg zu befördern. Also: legen oder schießen? Zielgenauigkeit oder brutale, zerstörerische Kraft? Wenn sie aufs Ganze gehen wollen, dann schaltet ein Wurf namens á carreau die gegnerische Kugel, die der Zielkugel am nächsten liegt, aus und belässt Ihre eigene Kugel an eben dieser Position. Wenn sie auf Nummer sicher gehen wollen und ihre Kugel bereits die beste Position innehat, dann schiebt le bec sie behutsam noch ein kleines Stückchen näher an die Zielkugel.
Ein 18-Jähriger hat "Gott" geschlagen
Die internationalen Wettbewerbe dominieren – kaum überraschend – die Franzosen. „Sie fangen in jungen Jahren an“, meint Mike Pegg, Vorsitzender der English Pétanque Association und Großbritanniens einziger international anerkannter Schiedsrichter. „Und sie spielen überall – in Parkhäusern, unter dem Eiffelturm.“ Zu den Legenden zählt der große Christian Fazzino, der innerhalb einer Stunde bei 1.000 Versuchen 992 Mal die Zielkugel traf. Der unumstrittene Nachwuchsstar ist zurzeit der gerade mal 18-jährige Dylan Rocher, der Anfang Juli den 12-maligen Weltmeister Philippe „Le Dieu“ Quintais und sein Team bei der WM in Madrid bezwang. In Frankreich hat er damit den Status einer nationalen Berühmtheit erlangt.
In anderen Ländern steht nach wie vor der soziale Aspekt an erster Stelle, meint der französische Banker im Londoner Exil, Ben Brousson: „Die freundschaftliche Komponente steht im Vordergrund. Man schwatzt nebenbei, vergisst seine Probleme. Und, nun ja, das Trinken. Das ist einfach unschlagbar.“
Die Regeln
Jemand aus Team A wirft das cochonnet (Schweinchen) sechs bis zehn Meter weit. Derselbe Spieler wirft die erste Kugel, immer mit gestrecktem Unterarm von unten nach oben ausholend. Nun wirft einer aus Team B; sein Team wirft so lange, bis es ihm gelingt, eine Kugel näher an das Schweinchen zu bekommen als Team A oder bis es keine Kugeln mehr hat. Dann ist Team A wieder an der Reihe. Die Punkte werden gezählt, wenn beide Teams keine Kugeln mehr haben: Ein Punkt für jede Kugel, die näher am Schweinchen ist als die beste Kugel des gegnerischen Teams. Das Team, das zuerst 13 Punkte hat, gewinnt.
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