Die riesige Explosion, die einen Großteil der Beiruter Innenstadt zerstört hat, ist eine düstere Metapher für die Gefahren, die den gescheiterten Staaten im Nahen Osten drohen.
Seit Jahren gilt die Region als instabilste der Welt, als ein Pulverfass, das jeden Moment in die Luft gehen kann. Die schreckliche Tragödie der vergangenen Woche wirft die größere Frage auf, wie viele Schocks solche fragile, verletzliche Staaten verkraften können, bevor sie zerreißen, zusammenbrechen und auseinanderfliegen. Ist der ganze Nahe Osten dabei, zu explodieren?
Fast zehn Jahre, nachdem die Reformhoffnungen des Arabischen Frühlings in einem Sturm von Gewalt und Konterrevolution zerschlagen wurden, und zu einem Zeitpunkt, an dem die regionalen Spannungen erneut auf einen Höhepunkt zulaufen, steht möglicherweise ein Wendepunkt bevor.
Der Besuch des französischen Präsidenten Emmanuel Macron am vergangenen Donnerstag und die globalen Hilfsangebote weisen darauf hin, dass die Welt der Region plötzlich wieder Aufmerksamkeit schenkt. Vielleicht führt das zu einem breiteren Anstoß für die fundamentalen Veränderungen, die viele im Libanon und seinen Nachbarländern so wütend fordern.
Schon lange ein gescheitereter Staat
In vielerlei Hinsicht befand sich die libanesische Republik, die 1943 mit dem Ende der französischen Mandatszeit gegründet wurde, bereits vor der Explosion in einer existenziellen Krise. Ein gescheiterter Staat ist laut Definition einer, der seine Bevölkerung nicht schützen, ernähren und in Arbeit bringen, seine Grenzen nicht schützen und seine Schulden nicht bezahlen kann. Auf den Libanon treffen alle diese Kriterien zu.
Die offizielle Fahrlässigkeit, die das Desaster am Dienstag vermutlich verursacht hat, ist ein typisches Ergebnis von Regierungssystemen, die von Parteigeist, Sektierertum, Korruption und fehlender demokratischer Verantwortlichkeit ausgehöhlt sind. Wieder lassen sich für die Regierung in Beirut in alle Kästchen ein Häkchen setzen. Und doch ist die Pest der Einmischung aus dem Ausland von all den Übeln vielleicht das schlimmste – und der Libanon ist ein Hauptopfer.
Der Bürgerkrieg zwischen 1975 und 1990 hinterließ ein Erbe der Teilung und territorialen Besatzung durch Israel und syrische Truppen. Zudem war der Libanon schlecht vorbereitet auf einen großen Zustrom von palästinensischen und syrischen Flüchtlingen. Sein ökonomisches Wohlergehen hängt vom Wohlwollen beziehungsweise dem Eigeninteresse von ausländischen Mächten ab. Dabei wählen die an der Macht beteiligten libanesischen Politiker eher konfessionell als professionell motiviert die Seite von Ländern wie den USA, Saudi-Arabien und dem Iran oder ihrem lokalen schiitischen Verbündeten, der Hisbollah.
Regelmäßig erlebt der Libanon kleinere Auseinandersetzungen zwischen den israelischen Streitkräften und islamistischen Milizen. Kein Wunder also, dass viele in Beirut anfangs annahmen, die Explosion am Dienstag sei von einem israelischen Luftangriff ausgelöst worden. 2017 wurde der sunnitische libanesische Premierminister Saad Hariri vom saudi-arabischen Regime entführt und zum Rücktritt gezwungen. Aktuell wird die libanesische Wirtschaft durch zwei Faktoren weiter geschwächt: auf Syrien zielende US-Sanktionen sowie die Verzögerung eines 20 Milliarden-US-Dollar-Rettungspakets des Internationalen Währungsfonds (IMF), das von einer ausländischen Agenda diktiert wird.
Streit im Vakuum
In den zehn Jahren nach dem Arabischen Frühling haben sich regionale Interventionen und die Beeinflussung durch verschiedene außenstehende Akteure verstärkt. Verrückterweise wurde dieser Prozess durch den schrittweisen Rückzug des größten Einmischers von allen verstärkt: Die USA haben ein Vakuum hinterlassen. Jetzt streiten sich andere darum, es zu füllen. Wenn der Libanon unter dem aktuellen Druck zerbricht oder in einem erneut ausbrechenden Bürgerkrieg verfällt, ist daran zu einem großen Teil Einmischung und Fäden-Ziehen aus dem Ausland schuld.
Ein verstörend ähnliches Bild zeigt sich im Irak, wo der neue Premierminister Mustafa Al-Kadhimi damit kämpft, das Zwillingserbe von amerikanischer Militärintervention und regionalen Machtspielen zwischen dem Iran, der Türkei und den arabischen Golfstaaten abzuschütteln. Nach einer großen Protestwelle im vergangenen Jahr kündigte Kadhimi vorgezogene Neuwahlen an. Zahlreiche Iraker*innen waren, wie derzeit die Menschen im Libanon, auf die Straße gegangen und hatten eine grundlegende Veränderung des politischen Systems gefordert. Sektiererische Rivalitäten zwischen sunnitischen und schiitischen Parteien und mit ihnen verbundenen Milizen, Korruption und wirtschaftliche Not, im Falle Iraks verschärft durch sinkende Öl-Einkünfte und ausgebliebene Investitionen in Jobs und Infrastruktur, verstärken die Instabilität des Landes. Aber auch ausländische Staaten tragen ihren Teil bei.
Die vom Iran gestützte Kataib-Hisbollah-Miliz wird für jüngste Angriffe auf verbliebene, den IS bekämpfende US-Streitkräfte verantwortlich gemacht. Der Iran ist entschlossen, den beherrschenden Einfluss, den er während des Chaos’ in Folge der US-Invasion gewonnen hat, nicht wieder abzugeben.
Wie alle seine Vorgänger nach 2003 steht Kadhimi vor der schweren Aufgabe, die dysfunktionale Demokratie des Irak vor dem Zusammenbruch zu retten – und damit den irakischen Staat. Sein Plan für vorgezogene Wahlen könnte allerdings noch vom Parlament durchkreuzt werden. Und die Kürzungen der US-Finanzhilfen haben seinen Versuchen, Teherans Griff zu lockern, nicht gerade geholfen. Zudem könnte seine persönliche Sicherheit in Gefahr sein, nachdem im vergangenen Monat der führende Anti-Terrorismus-Berater Hisham al-Hashimi ermordet wurde.
Dabei ist der Irak eigentlich bereits auseinandergebrochen: die faktisch autonome, kurdisch kontrollierte Region im Norden sieht sich kaum noch Bagdad gegenüber verantwortlich. Ein zentraler Akteur in dieser Sache ist die Türkei, die Iraks Souveränitätsschwäche ausnutzte, vorgeblich um einen Rachefeldzug gegen kurdische PKK-Separatisten zu führen. Mit seinen bewaffneten Interventionen im Irak, in Syrien und Libyen erinnert der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan an das Klischee der alten osmanischen Sultane: gebieterisch, rücksichtslos, bösartig.
Neue Generation von Unterdrückern und Ausbeutern
Was auf den Libanon und den Irak zutrifft, trifft auch auf weite andere Teile des Nahen Ostens zu. Syrien wird allein durch die grenzenlose Brutalität der Assad-Regierung zusammengehalten, unterstützt von einem weiteren neoimperialistischen Räuber, Russlands Präsident Wladimir Putin. Aber die Provinz Idlib widersetzt sich weiter. Zudem gibt es Anzeichen dafür, dass sich auch andernorts erneute Opposition regt. Ob der syrische Staat als Ganzes überleben wird, steht weiter in Frage.
Ausländische Einmischung ist auch ein zentraler Faktor für Libyens endlose Qual. Ägypten, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate stehen dort der Türkei, Qatar und islamistischen Gruppen gegenüber.
Die Tatsache, dass Großbritannien, Frankreich und Italien in diesem – vom Öl motivierten – wilden Treiben keine Hauptrolle mehr spielen, zeugt von einer Verschiebung der Lage. Die alten Kolonialmächte, die vor einem Jahrhundert die Regeln und die Grenzen festlegten, sind durch eine neue Generation von Unterdrückern und Ausbeutern ersetzt worden. Die selbstsüchtigen Motive und rücksichtslosen Methoden sind dabei dieselben geblieben. Nur die Namen haben sich verändert.
Der sich ständig verändernde Bereich der wachsenden Instabilität umfasst auch den Jemen, einen wehrlosen gescheiterten Staat und blutigen Austragungsort der Rivalitäten regionaler Mächte. Vielleicht ist auch das verletzliche Jordanien als Nächstes dran? Oder könnte ga der Iran, ein Land mit extrem vielen religiösen und ethnischen Gruppen, letztlich auseinanderbrechen und sich der nicht aufhörenden Feindseligkeit seiner Gegner ergeben?
Die jüngste Fragmentierung der Ordnung des Nahen Osten nach 1918 ist nicht weniger gefährlich, nur weil sei bekannt ist. Man mache sich auf weitere Explosionen gefasst. Während Beirut seine Trümmer zusammensammelt, könnte die alte Ordnung in der Region auseinanderbrechen.
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