Während in Europa die Wiege der Demokratie brennt, hat in Philadelphia, dem Athen Amerikas, ein ganz anderer Funke gezündet: Die örtliche Occupy-Bewegung erklärt als erste, bei den Wahlen zum US-Kongress antreten zu wollen. Sie gedenkt das zu tun, egal, ob ihr 29-jähriger Kandidat Nathan Kleinman den bisherigen moderaten Mandatsträger schlagen kann oder nicht. Dieses Verhalten sagt etwas aus über den neuen Geist des Pragmatismus innerhalb der amerikanischen Linken. Im Dezember kam eine Umfrage des Pew Research Center zu dem Ergebnis, dass die Sympathien für den Sozialismus unter jungen Amerikanern größer seien als die für den Kapitalismus.
Auch haben im noch jungen Jahr 2012 die progressiven Kräfte Amerikas bereits eine ganze Reihe spektakulärer Siege über die Ölindustrie, über Hollywood und die religiöse Rechte errungen. In Europa befindet sich die Linke unterdessen im freien Fall. Die Sozialdemokraten – einst Synonym für Skandinavien und den dort beheimateten Sozialstaat – erhielten bei den Präsidentschaftswahlen in Finnland nur etwas über sechs Prozent. Die einzigen Linken, die auf dem Alten Kontinent gegenwärtig allein regieren – das sind Carwyn Jones in Wales und Dimitris Christofias, der in Moskau ausgebildete Präsident Zyperns. Warum steht die Linke in Europa so schlecht da? Was kann sie von den Gesinnungsgenossen in Nordamerika lernen?
Der jüngste Sieg der US-Linken hat sich nach einem mittlerweile bereits etablierten Muster der durch Twitter ermöglichten People Power vollzogen. Die Seite politico.com hat bereits prophezeit, dies werde „das Lehrstück über die politische Kraft der sozialen Medien“ werden: Als bekannt wurde, dass die Krebsstiftung Susan G. Komen der Organisation Planned Parenthood (PP) die finanzielle Unterstützung von Krebsvorsorgeuntersuchungen entziehen wollte (im Vorjahr belief sich die auf 680.000 Dollar), weil ein Abgeordneter der Republikaner den Verdacht geäußert hatte, diese Beihilfe für PP verstoße gegen die Verfassung, weil die Organisation auch Abtreibungen finanziere, wurden die Komen-Verantwortlichen durch einen Tsunami aus einer halben Million Tweeds pro Tag regelrecht überwältigt und ruderten schließlich zurück.
Professor Marshall Ganz
Jedenfalls entsteht der Eindruck, dass die amerikanische Linke, die noch vor wenigen Jahren auf dem Rücken lag, dank Twitter wieder an Boden zugewinnen.
Dieses Revival mag zwar durch die Technik ermöglicht sein, es wird aber nicht davon getrieben. Das wirkliche soziale Netz, das diese Bewegungen geschaffen haben, ist eines aus Werten und einer Vision, die Menschen auf emotionaler Ebene verbinden, das Persönliche und Politische zusammenbringen und das Gefühl eines gemeinsamen Ziels auslösen. Auch wenn dies oft mit Hilfe neuer Kommunikationsmittel geschieht. Nicht mit dem Bericht einer Denkfabrik – der Standardwaffe der europäischen Linken – wurde der Kampf für Planned Parenthood gewonnen, sondern durch Menschen wie die Brustkrebspatientin Linda aus Las Vegas, die über Nacht zu einer YouTube-Berühmtheit wurde, als sie in einem Video ihre Narben zeigte, um damit ihre Wut auf die Kleingeistigkeit der Komen-Stiftung zu zeigen.
Die US-Linke hat sich ihre emotionale Intelligenz in den Kulturkämpfen der siebziger und achtziger Jahre hart erarbeitet, wo Argumente gegen Ignoranz und Vorurteile nichts auszurichten schienen. Während der Bush-Ära begannen dann Demokraten wie George Lakoff und Drew Westen damit, den Gegenschlag vorzubereiten, indem sie der Linken erklärten, was Framing bedeutet. Karl Rove und die Republikaner wussten bereits, was es bedeutet, und nutzen dieses Wissen mit verheerender Effizienz.
Hinter dem jetzigen Erfolg der amerikanischen Linken steht der 68-jährige Professor Marshall Ganz – der Mark Zuckerberg des Aktivismus, der 1965 von Harvard abging, um Arbeitsmigranten zu organisieren und 30 Jahre später an die Universität zurückkam, sein Studium beendete und seitdem einer neuen Generation seine Erfahrungen weitergibt. Professor Ganz hat schon viele Bewegungen inspiriert, von Obamas Graswurzel-Kampagne im Wahljahr 2008 bis hin zur vor kurzem gegründeten weltweit ersten Model-Gewerkschaft.
Der Kern seiner „Lehre“ besteht darin, dass politische Führungspersonen ein dreiteiliges Narrativ entwickeln müssen, mit dem sie ihre Berufung erklären: Warum sie sich berufen fühlen, zu handeln (Geschichte des Selbst), in welchem Zusammenhang diese Geschichte mit den Zuhörern steht (Geschichte des Wir) und auf welche Herausforderung mit diesem Handeln reagiert werden soll (Geschichte des Jetzt). Es klingt einfach (was Teil des Erfolgsrezepts ist). Wer aber an der Wirkung dieses Konzepts zweifelt, sollte sich einmal die Rede des bis dahin nur wenig bekannten Kandidaten für das Senatorenamt auf dem Konvent der Demokraten in Boston aus dem Jahr 2004 anhören, in der dieser erklärt, inwiefern der Sohn eines kenianischen Ziegenhirten, der sich um ein Senatorenamt bewirbt (Selbst), Symbol der amerikanischen Leistungsgesellschaft sei (Wir), die von der Politik des Weißen Hauses bedroht werde (Jetzt).
Rettung der europäischen Linken
Die traditionell schwache Linke in den USA ist aus schierer Notwendigkeit heraus dezentralisiert und vielfältig. Früher bedeutete das einmal mangelnde Organisation und Spaltung. Heute aber hat sie über Grenzen der Geografie und Generationen hinweg zu neuer Geschlossenheit gefunden. Dabei hat die neue Technik im Fall der Kampagne gegen die Keystone-Pipeline ermöglicht, dass die Farmer in Nebraska sich mit den Umweltschützern in Washington D.C. vernetzt haben. Diverse Neugründungen von Institutionen und die erfolgreiche Arbeit der Dienstleistungsgewerkschaft SEIU haben außerdem einen Resonanzraum für das Wissen um die Erfolgsmöglichkeiten von Bewegungen hergestellt und das geschaffen, was der Forbes-Autor Giovanni Rodriguez "fast history" (schnelle Geschichte) nennt, die das Tempo des Wandels beschleunigt.
Die US-Linke steht heute an der Schnittstelle zwischen der alten Welt des Community Organizing – der Organisation der Menschen vor Ort – und der neuen der sozialen Medien. Die europäische Linke hat hingegen weder in ihre Vergangenheit noch in ihre Zukunft investiert. Sie hat ihre Geschichte verworfen und ignoriert die neue Technologie. Ihre einzige Hoffnung besteht darin, dass Barack Obama nach seiner wahrscheinlichen Wiederwahl einen neuen Marshall-Plan in Betracht zieht, um eine in Trümmern liegende europäische Linke wieder von Grund her neu aufzubauen.
Adam Price saß für die walisische Plais Cymru von 2001 bis 2010 im britischen Unterhaus und ist heute Dozent am Center for International Development an der Harvard Kennedy School
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