Ist Twitter mehr als ein Beliebtheitswettbewerb für soziopathische Verlierer mit Borderline-Syndrom, die im echten Leben keine Freund finden? Die Antwort lautet erstaunlicherweise ja, auch wenn sich genauso gut sagen ließe, dass ein großer Teil des Reizes, sich den Twitterern anzuschließen, darin liegt, Followers/Freunde in Massen zu gewinnen, die man nie in persona kennengelernt hat und dadurch vermeintliches Sozialkapital anzuhäufen. Als Twitterer könnten Sie der Gattin des britischen Premierministers, Sarah Brown, in die bislang geheimen Winkel ihrer Welt folgen. Und Zeuge werden, wie sie sich italienischem Kalbsfleisch widersetzt. Und, na ja, Sie können so tun, als seien sie miteinander befreundet. Das ist doch was!
Positiv ist, dass es unglaublich einfach ist, ein Twitterer zu werden: Es kostet nichts und ist sehr viel einfacher, als sich beispielsweise für den Blumen-Lieferdienst von Marks Spencers anzumelden. Twitter ist nichts für Leute, die sich weitschweifig auszudrücken pflegen: Marcel Proust hätte niemals tweeten können. Es stehen einem 140 Zeichen zur Verfügung, um zu sagen, was auch immer man sagen will – „Warum mach ich das hier eigentlich nochmal?“, zum Beispiel. Diese 140-Zeichen-Texte nennt man dann „Tweets“.
Bei Twitter folgt man anderen Leuten, deren Tagesablauf einen bis ins Detail interessiert. Deren Tweets erscheinen dann auf der eigenen Seite. Wenn andere einem folgen, erscheinen die eigenen Tweets auf deren Seite.
Die flüchtige Moderne
Was finden nun so viele Leute daran? Wie der Soziologe Zygmunt Bauman in seinem Buch Liquid Love: On the Frailty of Human Bonds">Liquid Lovebeschreibt, schafft die so genannte „flüchtige Moderne“ (das seid ihr, liebe Twitterer) durch das Eingehülltsein in ein Netz von Botschaften – Texten, E-Mails oder eben Tweets - ein Gefühl von Zugehörigkeit oder Sicherheit. Das Gefühl der Verbundenheit lindert die Angst vor sozialer Ausgrenzung. Im Twitterversum zeigt die Zahl der eigenen Follower, ähnlich der Click-Through-Rate einer Internetseite, wie begehrt oder mächtig man online ist. Egal, ob solches Sozialkapital eher Schein als Sein ist.
Noch besser: Man kann mit Promi-Twitterern in Kontakt treten. Wie schön es doch ist, dem führenden Promi-Twit Stephen Fry zu folgen und, sagen wir mal, seine 140 Zeichen über das Einchecken in ein Hotel (plus seinem Schnappschuss von der Aussicht aus dem Fenster) zu lesen. Gott segne Fry und seinen Drang, die leeren Augenblicke seines Lebens mit Online-Gequassel über irgendwas zu füllen. Er und andere (Demi Moore, Snoop Dog und – jetzt kommt der Knaller – Coldplay) ermöglichen uns dadurch, Cyberstalker zu sein, ohne Strafverfolgung fürchten zu müssen. Wollen Sie von Davina McCall intime Botschaften wie diese empfangen: „OK: Ich werd versuchen mich zum ins-bett-gehen zu zwingen. gute nacht peeps.“? Vielleicht wollen Sie ja. Dank Twitter können Sie es jetzt auch!
Der Trost der Fremden
Gibt es keine besseren Gründe für’s Twittern? Gibt es. Es bietet den Trost der Fremden. Im Twitterversum sind alle – das verraten mir die Leute, die mir folgen – viel netter, als auf Social-Networking-Seiten wie Facebook. Man kann sich selbst vermarkten. Man kann Treffen unter Twitterbekanntschaften im echten Leben, so genannte Tweetups organisieren, um Gleichgesinnte kennen zu lernen. Wenn man ein Kreativer ist, kann man andere bitten, einem bei der Ideenfindung zu helfen.
Und sollte das alles nichts sein, kann Twitter als Nachrichtenquelle dienen. Die großen – wie trivialen – Nachrichten steigen an die Oberfläche des Twitterversums. Michael Jackson, Gaza, Mrs. Slocombe, Mumbai – das alles war dieses Jahr ganz groß im Twitterversum. Nicht schlecht für einen Dienst, der vor drei Jahren gestartet ist und hinter dem nie die Absicht stand, weltweit für so viel Wirbel zu machen.
Nichtsdestotrotz könnte Twitter in einem Jahr genauso in der Vergessenheit versunken sein wie Second Life. Erinnern Sie sich noch an Second Life? Ich mich auch nicht.
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