Über den Zielstrich getragen

Großbritannien Um zu regieren, hat David Cameron gegenüber den Liberaldemokraten so gewaltige Konzessionen gemacht, dass die Einheit seiner Partei auf dem Spiel steht

Nach fünf Tagen, die wir wie im Traum verbrachten – freischwebend, in einer Welt, in der alles möglich schien – ist nun die Nacht angebrochen und hat uns hart mit der Realität konfrontiert. Alle Fantasien einer fortschrittlichen Koalition haben sich in Luft aufgelöst. Sie wurden durch ein Bild abgelöst, vor dem sich viele fürchteten: David Cameron übertritt die Schwelle zu Downing Street No. 10 und wirft als erster Konservativer seit Margaret Thatcher 1979 einen Labour-Premier aus dem Haus.

Trost für die Linke

Für die Labour-Wähler und eine ganze Reihe von Liberaldemokraten ist es ein leidvolles Erwachen. Welche taktischen Berechnungen sie auch immer am 6. Mai, dem Wahltag, angestellt haben mögen, einer Sache waren sie sich gewiss: Sie wollten keine Tory-Regierung. Doch nun, zum ersten Mal seit 1997, ist das Realität. Am meisten werden davon nicht etwa die Minister der Labourpartei betroffen sein, die jetzt feststellen werden, dass sich ihr Auto nicht mehr von selbst bewegt, wenn sie hinten einsteigen. Am härtesten trifft es diejenigen, die auf den Schutz einer Labour-Regierung angewiesen sind. Um es mit den Worten eines hohen Mitglieds der Partei zu sagen: Das eigentliche Opfer der Ereignisse ist nicht Gordon Brown, auch wenn sein Abschied schmerzlich war, sondern „die Rentnerin, die ein Essen auf Rädern braucht“.

Und doch gibt es auch für Linkswähler Trost – allem voran das Schicksal der Konservativen. Es stimmt, Cameron hat sein ehrgeiziges Ziel erreicht. Aber er ist keineswegs über die Zielgerade gedonnert, wie er sich das vorgestellt hat. Stattdessen humpelte er mühsam über die Linie und musste sich dabei auf die Schultern der Liberaldemokraten stützen. Nach allem, was man so hört, musste der neue Premier gewaltige Konzessionen machen. Nicht nur, dass er den Liberaldemokraten fünf Ministerien abgeben muss, auch programmatisch wird er von der Linie der Konservativen so weit abweichen müssen, dass die Einheit der Partei auf dem Spiel steht. Der rechtskonservative Teil der Presse wird große Probleme haben, das versprochene Referendum über das Wahlsystem zu schlucken. Man wird am Mehrheitswahlrecht schrauben, das den Eliten so lange so gut gedient hat – wenn nicht gerade jetzt, so doch das ganze vergangene Jahrhundert über.
Die Daily Mail wird mit Sicherheit störrisch reagieren, wenn die Torys die vorübergehende Steueraussetzung für verheiratete Paare und das Erbschaftssteuer-Geschenk, das Cameron Großbritanniens 3.000 vermögendsten Familien versprochen hatte, fallen lassen. Cameron ist an die Macht gekommen, doch um den Preis, dass er mit seiner eigenen Basis auf Konfrontationskurs geht.

Image in Scherben

Was die Liberaldemokraten betrifft, so werden sie selbstredend das Ende einer 17 Jahre langen Dürreperiode feiern. Sie werden das ganz neue Gefühl erleben, wie es ist, auf einem weichen Ministersessel Platz zu nehmen. Dieses Vergnügen sollte nicht unterbewertet werden, doch auch dafür ist ein enormer Preis zu entrichten. Selbst wenn ihre Mitglieder und Parteisoldaten nicht vor Zorn heulen sollten, so wird es doch Unmengen von Briten geben, die daran geglaubt haben, dass eine Stimme für die Liberaldemokraten eine Stimme gegen die Torys ist. Diesen Glauben haben sie nun nachhaltig verloren. Stattdessen werden sie die Liberaldemokraten von nun als eine Art frei schwebenden Flügel der Torys sehen. Das könnte die Liberaldemokraten Millionen von Stimmen kosten.

Lange Zeit, das gilt insbesondere für die vergangenen Wochen, konnten sich die Liberaldemokraten als Good Guys der britischen Politik positionieren. Nick Clegg versuchte dieses Image im Wahlkampf zu personifizieren, in den TV-Duellen gab er den Saubermann, der mehr Transparenz versprach. Nach fünf Verhandlungstagen voll doppelzüngiger Machenschaften liegt dieses Image jetzt in Scherben. Den Konservativen und Labour kann das Hickhack weniger anhaben: Es war bereits allgemein bekannt, dass sie schmutzig mit harten Bandagen kämpfen und sich der schwarzen Künste der Politik bedienen. Doch dieses Image steht der liberaldemokratischen Marke nicht zu Gesicht: Ihre Politiker sollten über solche Dinge erhaben sein. Davon abgesehen haben die Liberaldemokraten den Zenit ihrer Macht bereits überschritten. So viel Einfluss wie in der vergangenen Woche werden sie wohl nie wieder genießen.

Sobald unterm Strich ihre Unterschrift steht, werden sie ihren Tory-Herren auf Gnade oder Ungnade ausgeliefert sein. Mit einem Verlassen der Koalition können sie ihnen nicht drohen: Sollten sie das tun, obwohl sie für eine Wahlperiode einer Allianz zugestimmt haben, riskieren sie Neuwahlen, die ihnen das Genick brechen könnten.

Übersetzung: Christine Käppeler

Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Jonathan Freedland | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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