Es ist wenige Tage her, dass ich beim Filmfestival in Cannes den dunklen und grüblerischen Film Winterschlaf des türkischen Filmemachers Nuri Bilge Ceylan gesehen habe, der am Ende als der beste ausgezeichnet werden wird, als ich Ceylan am Strand zum Interview treffe. Ein gut aussehender, ruhiger, eher melancholischer Mann, der häufig Rollen in seinen eigenen Filmen übernimmt.
Winterschlaf ist 196 Minuten lang und steckt voller Ideen. Nachdem ich den Film gesehen hatte, kam ich mir wie eine Python vor, die eine Gazelle verschlungen hat und nun verdauen muss. Die komplexe, an Anton Tschechow erinnernde Tragikomödie ist mal undurchsichtig, durchgängig faszinierend, an vielen Stellen brillant. Erzählt wird die Geschichte des Ex-Schauspielers Aydin (Haluk Bilginer), der sich in ein entlegenes Dorf in Anatolien zurückgezogen hat, um dort das Hotel seiner verstorbenen Eltern zu führen. Er lebt mit seiner attraktiven jungen Frau Nihal (Melisa Sözen) zusammen, die sich nach ihrem gemeinsamen Leben in Istanbul zurücksehnt und feststellen muss, dass sie einen spießigen Hotelbesitzer geheiratet hat. Bei ihnen wohnt auch Aydins geschiedene Schwester Necla (Demet Akbağ), die sich über den Dünkel ihres Bruders lustig macht – insbesondere über die selbstgefällige Kolumne, die er für eine Lokalzeitung verfasst.
Ceylan sagt, nicht Tschechows Drei Schwestern habe ihn inspiriert, sondern einige von dessen Kurzgeschichten. Welche besonders, will er nicht sagen; er fürchtet, der Film könnte dann für eine Adaption gehalten werden. „Das war ein Ausgangspunkt, ein kleiner Dialog, im Wesentlichen Beschreibung. Keine ganze Geschichte, eher ein bestimmtes Lebensgefühl.“
Ceylan und seine Frau und Koautorin Ebru haben vor sechs Jahren begonnen, den Film zu entwickeln. „Wenn wir zusammen ein Drehbuch verfassen, ist das ein ziemlich komplizierter Prozess. Zuerst reden wir miteinander, vielleicht einen Monat lang. Dann fangen wir an, das Gerüst festzulegen. Dann kommen die Dialoge. Dass wir die Dialoge getrennt schreiben, macht die Sache besonders schwierig. Sie schreibt ihre Version, ich schreibe meine – dann diskutieren wir. Manchmal hat mich überrascht, was sie schrieb. Manchmal war es umgekehrt.“
Keiner mochte den Titel
Und was war mit dem Casting? Hat er von Anfang an daran gedacht, die Hauptrolle mit Bilginer zu besetzen – einem Schauspieler mit großer Theatererfahrung, der lange in England gelebt und gearbeitet hat und dort in der Krimiserie Jim Bergerac ermittelt und der Seifenoper EastEnders zu sehen war? Ceylan nickt. „Ich habe nur an ihn gedacht. Er lehnte zunächst ab, weil er ein eigenes Theater hat und drei Abende pro Woche auf der Bühne steht. Ich habe nach einer Alternative gesucht, bekam ihn aber nicht aus dem Kopf.“
Wir kommen auf den Titel zu sprechen, der viele Assoziationen zulässt. Spielt er auf den Großen Schlaf an, den Tod? Ceylan lächelt. „Mit dem Titel sind wir ein ziemliches Risiko eingegangen. Niemand in meinem Umfeld wollte ihn – die Verleiher nicht, keiner. Sie sagten: Das ist ein langer Film eines langsamen Regisseurs. Bitte gib ihm keinen Titel, in dem Schlaf vorkommt – alle werden sich über dich lustig machen! Ein Verleiher wollte ihn in ‚Wintersonne‘ umbenennen. Aber ich mag Herausforderungen. So entsteht die umgekehrte Wirkung. Es ist besser, die Erwartungen zu dämpfen. Wenn die Zuschauer einen schwierigen Film erwarten, haben sie weniger Schwierigkeiten, wenn sie ihn ansehen. Ich habe also auf den Titel bestanden.“
Der Film überrascht den Zuschauer mit unerwarteter Leichtigkeit, Komik und schwarzem Humor. Kann Ceylan sich vorstellen, eine Komödie zu machen? „Nein, nein, nein, das ist nicht meins, ich mag keine Komödien und lache nicht gern.“ Sagt er und prustet los. „Ich meine: Mir liegen eher melancholische Dinge.“
Nebeneffekt Komik
Als ich ihn frage, welche Kollegen er besonders bewundert, hebt er Yasujirô Ozu und Robert Bresson hervor. Ich spreche ihn auf die klassische (und sehr lustige) Szene aus seinem Film Uzak – Weit aus dem Jahr 2002 an, in der ein Mann und sein Gast sich Andrei Tarkowskis Stalker auf Video ansehen. Als der eine einschläft, legt der andere einen Porno ein. Wollte er damit unsere Beziehung zu den großen Meistern des Kinos auf die Schippe nehmen?
Nuri Bilge Ceylan klärt mich auf: „In der Türkei wurde diese Szene falsch verstanden. Die Leute dachten, der eine habe den Tarkowski nur eingelegt, damit der andere einschläft. Doch er wollte eine Verbindung zwischen sich und seinen verlorenen Idealen herstellen und wirklich Tarkowski sehen. Der Weg von Tarkowski zur Pornografie ist nicht so weit. Beides hat mit unseren Bedürfnissen zu tun. Der eine Typ spürt, dass es ihm nicht gelingt, eine Verbindung zu seinen verlorenen Idealen herzustellen, also masturbiert er. Zu masturbieren bedeutet manchmal, die Welt zu vergessen. Es ist lustiger, wenn das Komische daran sich als Begleiterscheinung einstellt.“
Winterschlaf von Nuri Bilge Ceylan startet am 11. Dezember in den deutschen Kinos,
Übersetzung: Holger Hutt
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