Wenn man hört, was die Präsidentenbewerber der Republikaner seit Wochen tagein, tagaus von sich geben, könnte man meinen, die US-Politik sei nicht nur in einem anderen Jahrzehnt steckengeblieben, sondern in einem anderen Jahrhundert. Ben Carson hält Obamacare für „das Schlimmste, das dieser Nation seit der Sklaverei passiert ist“ und versteigt sich bei der Frage nach strengeren Waffengesetzen zu der Behauptung, Hitler hätte im Holocaust weniger Juden ermorden können, „wenn die Leute bewaffnet gewesen wären“. Donald Trump plädiert dafür, zwölf Millionen nicht registrierte Einwanderer auszuweisen, da viele von ihnen „Mörder und Vergewaltiger“ seien. Oder für ein Einreiseverbot für Muslime. Und Carly Fiorina behauptet mit vollem Ernst, alles, was Hillary Clinton befürworte, sei „erwiesenermaßen schlecht für Frauen“, inklusive einer bezahlten Elternzeit.
Weniger Frömmigkeit
Die Republikaner unterbieten einander beim Niveau ihrer Statements, weil sie als Konservative kulturell weiter an Boden verlieren. Ihr Land steht an einem Wendepunkt, der von einer neuen progressiven Mehrheit unter den Wählern herbeigeführt wird. Es sind dies ethnische Minderheiten wie Schwarze und Latinos oder Millennials (zwischen 1982 und 2000 Geborene), dazu immer mehr Säkulare. 2012 stellte diese Klientel 51 Prozent der Wähler, 2016 wird die Marke von 63 Prozent erreicht sein. Die ethnischen Gruppen vermischen sich immer stärker, das Land wird multilingualer – eine Vielfalt, die für Amerikas politische Identität zusehends an Bedeutung gewinnt. Es geht nicht um Trends, sondern um gravierende demografische Veränderungen, die mit einem dramatischen Wertewandel einhergehen. Mittlerweile werden 15 Prozent aller Ehen zwischen Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen geschlossen. Weltweit landet einer von fünf Migranten in den USA. Das heißt in der Konsequenz, fast 40 Prozent der Einwohner von Los Angeles, 50 Prozent der Ingenieure im Silicon Valley und die Hälfte aller amerikanischen Nobelpreisträger wurden außerhalb der USA geboren.
Seit 2011 lebt eine Mehrheit ohne Trauschein zusammen und akzeptiert eine Vielzahl von Familientypen – gleichgeschlechtliche Ehen, unverheiratete Paare, Kinderlose, Alleinstehende. Dadurch ist die traditionelle Rolle des männlichen Ernährers so gut wie ausgestorben. Drei Viertel aller Frauen im arbeitsfähigen Alter sind berufstätig, zwei Drittel von ihnen ernähren ihre Familien oder tragen durch ihr Einkommen wesentlich zu deren Unterhalt bei. So werden alleinstehende Frauen 2016 ein Viertel der Wählerschaft stellen. Parallel dazu ging die Frömmigkeit quer durch alle Konfessionen zurück. Eine Ausnahme bilden die weißen Evangelikalen, doch gibt es mittlerweile mehr Menschen, die sich säkular definieren als Mitglieder der großen evangelischen Kirchen. Diese Veränderungen gingen mit unglaublicher Geschwindigkeit vonstatten. Das politische Gravitationszentrum ist in weniger als einem Jahrzehnt von rechts in die Mitte gerückt. Als Barack Obama sich 2008 erstmals um das Weiße Haus bewarb, bezeichneten sich noch 46 Prozent aller Amerikaner als konservativ. Heute sind es 37 Prozent. Gallup zufolge wird 2015 das Jahr sein, in dem es einen entscheidenden kulturellen Wendepunkt gegeben hat, denn gut 70 Prozent aller Amerikaner halten Homosexualität und Sex zwischen Unverheirateten nunmehr für „moralisch vertretbar“.
Giftiger Treibstoff
Es zeichnet sich ab, dass die Republikaner bei der Präsidentenwahl in einem Jahr schwer auf die Nase fallen, selbst wenn es ihnen gelingt, ihre Hochburgen Repräsentantenhaus und Südstaaten zu halten. Das erklärt auch, warum sich dieses Lager so unerbittlich restaurativ gibt. Die republikanische Partei muss die neuen und größer werdenden Gruppen davon abhalten, sich zu einem kohärenten Block zusammenzuschließen. Der sich ergebende Kulturkampf ist ein Feuer, das stets nach mehr giftigem Treibstoff verlangt. Den gibt es nur, indem man die Furcht vor dem gesellschaftlichen und moralischen Armageddon unablässig schürt, das auf einen erneuten Sieg der Demokraten angeblich folgt.
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