Unerwarteter Experte

Blogkritik Der amerikanische Hip-Hopper Kanye West blogt über Architektur und Design - oft in Großbuchstaben und grammatikalisch nicht korrekt, aber der Mann ist ein Trendscout

Bei einem Mann, der sich selbst immer mal wieder mit Jesus vergleicht, sollte man es kaum für möglich halten - aber es kommt auch vor, dass der US-amerikanische Hip-Hopper Kanye West sich selbst unterschätzt. Von seinem musikalischen Werdegang, der mit anspruchsvollem Hip Hop begann und inzwischen bei Duetts mit Coldplay-Sänger Chris Martin angelangt ist, kann man halten, was man will – aber Kanye hat noch eine Menge mehr zu bieten. Wie jeder weiß, der schon einmal auf seinem enorm beliebten und zunehmend einflussreichen Blog vorbeigeschaut hat, besticht dieser weniger durch verzerrte Selbsteinschätzung (oder die liebenswerte Vorliebe für die Verwendung mehrerer Ausrufezeichen), als dadurch, dass die Interessen des Verfasser - im Gegensatz zu denen vieler anderer Promis – über die eigene Branche, ja, sogar über die eigene Person hinausgehen. Noch besser, scheint es sich bei Kanyes breitgefächerten Interessen nicht um eine gekünstelte Zurschaustellung nicht-vorhandenen Tiefgangs zu handeln. Der Verdacht kommt einem ja schon mal, wenn man hört, wie gewisse Schauspielerinnen von ihrer Besorgnis über die Kriegswaisen-Problematik erzählen, um dann in Filmen mit Multimillionen-Dollar-Budget Uzis zu schwingen (Zu dir kommen wir ein anderes Mal, Angelina!).

Kanye versprüht jedenfalls Begeisterung. Seinen Blog nutzt er als Plattform, alles und jeden vorzustellen, dass er irgendwie interessant findet - von Architektur über Möbel bis hin zu Videos. Grammatikalisch einwandfrei verpackte Einsichten findet man hier zwar nicht, („WO TRÄUME VON GEMACHT SIND!!!“ lautet die Überschrift eines kürzlich verfassten Eintrags über ein Haus in Brasilien, das es ihm anscheinend angetan hat), dafür aber eine beeindruckende Vielfalt an Fundstücken. Und dazu Kanyes übersprudelnde Persönlichkeit.

Jedem, der noch Zweifel an Kanyes Urteilsvermögen in Sachen Design hegt, sei gesagt: Zweifelt nicht länger, ihr habt es hier mit dem Mann zu tun, der gesagt hat, Carlton aus der US-Fernsehserie "Der Prinz von Bel Air" sei die Stilikone seiner Teenagerjahre gewesen. Eine Wahl, die sich im Nachhinein als geradezu gruselig weitsichtig herausstellt. Heute nämlich, mehr als zehn Jahre später, erfreuen sich Carltons adrette Pullover und sein schniekes Schuhwerk äußerster Beliebtheit.

Also: Welche ästhetischen Prognosen hat Kanye sonst noch auf Lager? Was Architektur betrifft, hat der Mann mit der spacigen Lamellen-Sonnenbrille eine berechenbare Liebe für moderne Entwürfe. Einer von diesen, die Casa TDA in Eugenio Erana Lagos erntet die kritische Wertung „EINFACH UMWERFEND...EINFACH UMWERFEND!!“. Meinem altbackenen Blick nach zu urteilen, sieht das Gebäude aus wie eine Freiluft-Beton-Zelle. Ich erlag allerdings auch erst recht spät dem Reiz des Carlton Banks, es mag also an mir liegen. Kanyes Verdikt über den portugiesischen Pavillon auf der Expo 2008, dessen Wände aus zerknüllter Alu-Folie erbaut zu sein scheinen, teile ich da schon eher. „MAN...DAS IST DER WAAAHSINN!!“, findet Kanye. Ich hätte es nicht besser ausdrücken können.

Beim Design beweist Kanye einen treffsicheren Blick für das Außergewöhnliche und zugleich Hochpreisige (was ja durchaus angemessen ist für jemanden, der Louis Vuitton so sehr liebt, dass er sich selbst als Designer für die Firma betätigt). Der Nutzen einer Laptop-Tasche aus Holz drängt sich zwar nicht gerade auf, aber bestimmt stellt sie eine Verbesserung gegenüber den herkömmlichen Stoff-Langweilern dar. Eine Applaus-Maschine, die der Designer Martin Smith für die Firma Laikingland entwickelt hat, verschlägt dem Rapper glatt die Sprache: „FÜR DIESEN EINTRAG HABE ICH MIR SO VIELE KOMMENTARE ÜBERLEGT, DASS MIR DAS GEHIRN WEHTAT UND ICH AUFHÖREN MUSSTE“, schreibt er, diesmal ohne Ausrufezeichen.

Spielzeuge, Möbel, Haushaltsgegenstände - Kanyes Ader für modernen ausgefallenen Schnickschnack lässt einen Mann vermuten, der vor lauter Geld nicht mehr auf praktische Dinge anspringt. Was vielleicht auch nicht weiter verwunderlich ist. Leider ist sein Geschmack in der Kategorie „Frauen“ weniger Avant garde – er lässt sich mit den Worten kurvig, mit Schmollmund, wie aus einem Porno zusammenfassen. Was ebenfalls nicht weiter verwunderlich ist.

Der digitale Freitag

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Hadley Freeman, The Guardian | The Guardian

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