Unter weißen Männern

Porträt Thokozile Masipa ist auf dem Höhepunkt ihrer Karriere: Bald fällt die Richterin ihr Urteil im Pistorius-Prozess
Ausgabe 34/2014
Die 66-Jährige stammt aus sehr armen Verhältnissen in Soweto. Sie gilt als undurchschaubar, professionell, aber auch als warmherzig
Die 66-Jährige stammt aus sehr armen Verhältnissen in Soweto. Sie gilt als undurchschaubar, professionell, aber auch als warmherzig

Foto: Themba Hadebe/ AFP / Getty Images

Die Frau, die über das Schicksal von Oscar Pistorius entscheiden wird, hat sich zurückgezogen, um ihr Urteil zu fällen. 41 Tage lang saß die Richterin Thokozile Masipa dem Prozess im Gerichtssaal des High Court von Pretoria vor, sah die Tränen des Beschuldigten und musste nicht nur die beiden weißen afrikaansen Anwälte zur Ordnung rufen. Alle nennen sie „M’lady“.

Streng und undurchschaubar hat die 66-Jährige sich eine Unmenge von Beweisen vortragen lassen, stets ruhte ihr Kopf dabei auf ihren arthritischen Händen. Nun muss sie sich festlegen, ob der Paralympionike Pistorius seine Freundin Reeva Steenkamp am Valentinstag des Jahres 2013 erschossen hat, weil er sie verwechselte. Oder ob Mazipa ihn, ebenso wie die Staatsanwaltschaft, des vorsätzlichen Mordes für schuldig hält. Das Urteil wird sie am 11. September verkünden.

Obwohl Masipa in ihrer roten Robe weltweit auf TV-Bildschirmen zu sehen war, weiß man wenig über sie. Suzette Naude, eine der Justizbeamtinnen im Prozess, sagt, auch ihr würde sie sich nicht anvertrauen: „Ich weiß nicht, was sie über den Fall denkt. Sie hat nie mit mir darüber gesprochen.“ Und fragt man Naude, warum Masipa so stark hinke, schüttelt sie auch den Kopf: „Mir hat sie einmal erzählt, es sei wegen eines Oberschenkelbruchs. Andere sagen, sie sei als Kind an Kinderlähmung erkrankt. Keiner weiß es.“

Jeden Morgen lässt sich die Richterin bereits bei Aufgang der Wintersonne in einem Mercedes zum Obersten Gericht in Pretoria fahren, um dort mehr als zwei Stunden vor jedem anderen Richter an ihrem Schreibtisch die wichtigen Dokumente für den Tag durchzugehen. Eigentlich ist sie am Obersten Gericht von Johannesburg beschäftigt; es ist das Haus mit den meisten Fällen im Land. Und selbst ihre vier Enkel müssten Termine machen, um sie zu sehen, scherzte sie mal. Die Staatsanwältin Susan Abro, die sechs Jahre lang mit Masipa zusammengearbeitet hat, schildert sie als „sehr kluge, professionelle“ Person, aber auch als warmherzig und bescheiden. Masipas Freunde beschreiben sie zudem als religiös und gesundheitsbewusst.

Geboren wurde Thokozile Masipa im Jahr 1947 als erstes von zehn Kindern, von denen nur drei überlebten. Aufgewachsen ist sie in einem Haus mit zwei Zimmern im armen Orlando East, einem Stadtteil von Soweto. Heute ist im Haus ihrer Kindheit eine von ihrer verstorbenen Mutter gegründete Krippe für Kinder mittelloser Eltern untergebracht, die Masipa finanziell unterstützt.

Bereits als Schülerin hat sie hart gearbeitet und sich in Büchern vergraben. Inspiriert von ihrer Mutter, einer Lehrerin, wurde sie zunächst Sozialarbeiterin, dann Büroangestellte, Kurierbotin, Kellnerin – und musste zusehen, wie junge weiße Mädchen mit High-School-Abschluss jene Jobs bekamen, nach denen sie sich sehnte. 1974 machte sie an der Uni ihren Abschluss in Sozialer Arbeit und arbeitete später – auch während des Soweto-Aufstands – als Polizeireporterin. Später schrieb sie als Leiterin des Frauenressorts bei The Post über Schulen, Bildung oder die Arbeitsbedingungen von Hausangestellten.

Ihre Stärke zeigte sie auch auf den Straßen von Johannesburg, wo sie als 29-Jährige gemeinsam mit anderen Journalistinnen gegen die Inhaftierung mehrerer schwarzer Redakteure der Post demonstrierte. Sie und vier Kolleginnen wurden verhaftet und setzten sich in der dreckigen Zelle gegen ihren weißen Wärter durch, der sie zwingen wollte, die Exkremente früherer Gefangener wegzuputzen.

1990 schließlich, Masipa war inzwischen Mutter geworden und arbeitete weiter als Journalistin, machte sie an der Universität von Südafrika ihren Juraabschluss – kurz nach Nelson Mandelas Haftentlassung. 1998 wurde sie als zweite schwarze Frau auf die Richterbank berufen. „In gewisser Weise ist sie eine Pionierin“, sagt der ehemalige südafrikanische Verfassungsrichter Albie Sachs. Doch auch heute gibt es im Land nur wenige Schwarze auf dem Richterstuhl – und noch weniger Frauen.

Als sie Richterin wurde, legte Masipa den Namen Matilda zugunsten von Thokozile ab. Auf Zulu bedeutet das „glücklich“. Doch auch wenn die Personalpolitik der Gerichte glaubwürdiger geworden sei, stelle sie der Alltag weiterhin vor Herausforderungen: „Manchmal stehen Frauen vor mir, die sich sagen: ‚Sie ist schwarz, sie ist eine Frau, sie muss das verstehen.‘ Doch mein Augenmerk muss darauf liegen, was das Gesetz sagt.“

Dass sich ihre Herkunft auf ihre Urteile auswirkt, bestreitet sie trotzdem nicht. Sie widmet sich dem Schutz der Schwachen. 2013 hat sie einen Mann, der bei einer Einbruchserie drei Frauen vergewaltigt hat, zu 252 Jahren Haft verurteilt. Vor allem missbilligte sie, dass er seine Opfer „im Schutz ihres eigenen Zuhauses, in dem sie sich sicher wähnten“, überfiel. 2009 verhängte sie eine lebenslange Haftstrafe über einen Polizisten, der seine Exfrau während eines Streits um die Scheidungsvereinbarung erschossen hatte. „Niemand steht über dem Gesetz“, sagte sie. Im selben Jahr wies sie die Stadt Johannesburg zurecht, weil die ihrer Pflicht, Unterkünfte für von Räumungen bedrohte Hausbesetzer zu stellen, nicht nachkam.

Das südafrikanische Justizministerium betont, Masipas Ernennung zur Richterin im Mordprozess Pistorius sei verfahrensmäßig. Viele Südafrikaner sehen darin aber auch ein wichtiges Indiz für den Wandel. Masipa selbst hat über ihren Posten einmal gesagt: „Es ist kein einfacher Platz. Lange saßen dort nur Männer. Aber man gewöhnt sich daran. Man sitzt dort ja nicht als Frau – man füllt eine Position aus. Also macht man einfach weiter.“

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Zilla Hofman
Geschrieben von

Nastasya Tay | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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