Unterwegs im Jagdrevier

Somalia Seit Jahren bekämpft die Afrikanische Union die Al-Shabaab-Milizen. Mit mäßigem Erfolg
Ausgabe 41/2013
UN-Gebäude nach einem Angriff der Al-Shabaab-Milizen
UN-Gebäude nach einem Angriff der Al-Shabaab-Milizen

Foto: Mohamed Abdiwahab/AFP/Getty Images

Die Männer mit den AK-47-Gewehren rennen schnell in die andere Richtung, als die Patrouille der Afrikanischen Union (AU) das Dorf Goobweyn betritt. Das Dorf ist eine Hochburg der Al-Shabaab-Milizen im Süden Somalias. Ich bin mit der Patrouille der AU-Mission unterwegs. Wir kommen aus Somalias südlicher Hafenstadt Kismaayo, die vor einem Jahr von den Al-Shabaab befreit wurde und noch immer von dem 17.000 Mann starken Kontingent der Afrikanischen Union gehalten wird. Wir haben gerade erst die Front überquert.

„Seht! Da drüben!“, schreit ein Unteroffizier aus dem westafrikanischen Sierra Leone, einem der kleineren Truppensteller für die Mission der Afrikanischen Union in Somalia (Amisom). Er zeigt durch den Fensterspalt unseres gepanzerten Wagens auf weit entfernte, sich schnell bewegende Gestalten. „Vor Profis haben sie Angst.“ Er hat Recht, zumindest, was diese Begegnung anbelangt. Al-Shabaab vermeidet die Konfrontation mit konventionellen Armeen.

Doch in eben dieser Konfrontation besteht die Hauptaufgabe Amisoms. Die somalische Regierung wird zwar international anerkannt, ist aber schwach. Die ihr unterstellte Armee besteht hauptsächlich aus einer Reihe unterschiedlicher Milizen, die noch immer sich gegenseitig bekriegenden Warlords verpflichtet sind. Da die afrikanischen Führer kein zweites Afghanistan vor ihrer Haustür wollten, beschlossen sie vor sieben Jahren die Intervention im Rahmen von Amisom. Die Mission wird von Uganda angeführt und verfügt über ein Mandat der Vereinten Nationen. Von dieser wird sie auch finanziell unterstützt.

Land der Jugend

Die Al-Shabaab-Miliz, die durch den jüngsten Terrorakt in Nairobi die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sich gezogen hat, ist mehr als nur eine von vielen radikal-islamischen Gruppen, die Terroranschläge verüben. Sie ist bei Weitem die stärkste nationale Armee Somalias und hält über die Hälfte des Landes unter ihrer Kontrolle. „Wenn Amisom heute abziehen würde“, sagt ein somalischer Journalist, der aus Angst vor Repressalien nicht namentlich genannt werden möchte, „würden die al-Shabaab morgen in Mogadischu die Macht übernehmen.“

Ein Hinweis zum Verständnis der Gruppe und des von ihr ausgeübten Einflusses besteht in ihrem Namen. Al-Shabaab ist Arabisch und heißt übersetzt „Die Jugend“. Somalia hat acht Millionen Einwohner und gehört zu den ärmsten Ländern der Welt. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung ist jünger als 20 Jahre. Die Somalier sind sehr stolz auf ihre nomadische Tradition, doch Dürren und Lebensmittelknappheiten haben Millionen Menschen aus dem Land vertrieben, das sie sich einst mit ihren wertvollen Kamelen und ihrem unendlichen Himmel teilten. Somalia ist heute Teil der modernen Welt, in der es auf Arbeitsplätze und Einkommen ankommt – und die Dschihadisten sind dabei zu rekrutieren. Somalische Jugendliche sind zumeist ohne Arbeit, arm und von korrupten Regierungen enttäuscht, sie sind damit relativ leicht manipulierbar.

Die soziale und wirtschaftliche Krise im Land wird durch den Krieg der Clans noch verschärft – und zum Teil sogar überhaupt erst verursacht. Es konnte kaum überraschen, dass eine radikal-islamische Bewegung in diesem Kessel voller Probleme ein geeignetes Jagdrevier für die Gewinnung neuer Rekruten sieht. Al-Shabaab ist in der Lage, Einheimische zum Beitritt zu drängen, und zieht ausländische Dschihadisten an. Doch ich habe nichts gesehen, was dafür spräche, dass sie in der Bevölkerung wirklich beliebt wären.

Da gibt es etwa einen Bauern, den ich in Kismaayo treffe. Er ist aus seiner Heimatstadt Jilib im Norden, mitten im Herzen des von den Al-Shabaab kontrollierten Somalia, in die Provinzhauptstadt geflohen. Sein Name ist Musa Ali, und er besaß einst 15 Morgen Land, auf denen er Mangos, Bohnen und Mais anbaute, sowie ein Haus mit sieben Zimmern, erzählte er mir. Das ist für somalische Verhältnisse äußerst wohlhabend. Doch jetzt lebt Ali in Kismaayo in einem Lager für Vertriebene, das auf einer stillgelegten städtischen Müllhalde untergebracht ist. Hier hat er nur einen zwei Quadratmeter großen Verschlag aus verrostetem Wellblech und die Überreste zweier Sessel.

Jede Nacht Gefechte

„Die Al-Shabaab haben mir die Hälfte meiner Ernte abgenommen, als Steuer“, sagt er. „Und sie verboten meinen Töchtern, zur Schule zu gehen. Die Atmosphäre war so repressiv, da lebe ich lieber hier als auf meinem Hof.“

Als mir der kenianische Brigadegeneral und für den südlichen Sektor Somalias verantwortliche Amisom-Kommandeur, Antony Ngere, auf seiner Karte die „von Al-Shabaab befallenen Gebiete“ zeigt, sehe ich viele rote Punkte, an die Amisom sich nur selten traut. „Dieser Krieg ist nur schwer zu gewinnen“, sagt der General. „Es geht nur langsam voran. Aber das ist kein Grund, ihn nicht zu führen. Wir werden weiterkämpfen, und wir werden gewinnen.“

Dass Al-Shabaab eine militärische Kraft ist, mit der man rechnen muss, wurde mir auf unserem kurzen Ausflug hinter die Front deutlich, den wir von Kismaayo aus in das von den Al-Shabaab gehaltene Dorf Goobweyn unternahmen. Neben dem Asphalt der Straße erkannte ich Reihen sandiger Schützenlöcher und Gräben, die sich in die Ferne erstreckten. Die Gräben waren übersät mit Patronenhülsen, Resten von Uniformen und leeren Lebensmitteldosen. „Das sind die Positionen der Al-Shabaab“, sagt Leutnant Joseph Adekule von der sierra-leonischen Armee. „Sie kommen nachts hierher, um unsere Verteidigungslinien um Kismaayo unter Beschuss zu nehmen.“

Und wie sie das tun. Ich habe acht Nächte in Kismaayo verbracht – entweder in kenianischen Stellungen oder bei den Soldaten aus Sierra Leone – und in jeder Nacht habe ich schweren Gefechtslärm gehört, der von automatischen Waffen bis hin zu Flugabwehrkanonen, Granaten und Artillerie herrührte. Sowohl in den kenianischen als auch in den sierra-leonischen Lagern habe ich nur knapp 180 Meter hinter den Amisom-Linien verbracht. Viel geschlafen habe ich in dieser Zeit nicht.

Amisom hat in den vergangenen Jahren Fortschritte gemacht, 2011 Mogadischu und 2012 Kismaayo erobert. Doch die Anzahl roter Punkte auf der Karte von Brigadegeneral Ngere ist noch immer groß und sieht nicht so aus, als würde sie zurückgehen. Er sagt, mit einer besseren Ausrüstung wäre es Amisom möglich, stetig vorzurücken. Als die UN-gestützte Mission geplant wurde, rechnete man mit zwölf schweren Kampfhubschraubern, die auch Truppen transportieren können. Bis heute hat sie keinen einzigen erhalten.

Einige kenianische und westliche Politiker haben die Massenmorde im Westgate-Einkaufszentrum als „Akt der Verzweiflung“ einer marginalisierten Bewegung „auf der Flucht“ bezeichnet. Doch es war schon seit jeher ein fataler Fehler, somalische Aufstände oder Revolten zu unterschätzen. Erinnern Sie sich an Black Hawk Down? Anfang der Neunziger mussten Tausende amerikanische Soldaten ungeordnet aus Somalia abziehen, nachdem eine schlecht geplante Intervention zur Bekämpfung einer Hungersnot misslungen war. Die Marines hatten die „skinnies“ („die Dünnen“) missverstanden, wie sie die somalischen Milizionäre herablassend bezeichneten.

Amisom hat während seiner Somalia-Mission längst sehr viel mehr Soldaten verloren als jene 18 US-Marines, deren Schicksal von Hollywood verfilmt wurde. Manche Schätzungen gehen davon aus, dass Uganda allein bereits 3.000 Soldaten eingebüßt hat. Und die Kriege um Somalia, ob in Einkaufszentren oder an der Front um Kismaayo, scheinen noch lange nicht zu Ende.

Mark Doyle ist BBC-Korrespondent

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Mark Doyle | The Guardian

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