Das Haus steht über mehrere Tage hinweg unter Beobachtung. In ihm befinden sich sieben Frauen, die von Milizen des Islamischen Staates (IS) vor einem Jahr während des Raubzugs durch die jesidisch dominierten Gebiete des Nordirak gekidnappt wurden. Die Geiselnehmer sind mehrheitlich gebürtige Australier. Die sie observieren, gehören zu einem klandestinen Netzwerk, das von einem Mann aufgebaut wurde, der unter dem Namen Abu Shujaa bekannt ist. Dieser Mann ist jesidischer Iraker. Sein Name bedeutet auf Deutsch so viel wie „Vater der Unerschrockenen“. Bislang waren seine Glaubensbrüder immer nur die passiven Opfer, die Mörderbanden des IS stets die Täter. Abu Shujaa wollte daran etwas ändern. Er wollte zurückschlagen.
Als die Australier vor ein paar Tagen abends das Haus verlassen, gibt er das vereinbarte Zeichen. „Zwei unserer Leute gingen hinein, drei andere standen in der Umgebung Wache“, erzählt Abu Shujaa, der die minutiös geplante Operation in der nordsyrischen Stadt Raqqa von einem in der Nähe gelegenen Haus verfolgt hat. „Wir brachten die Frauen schnell in ein sicheres Versteck im Gouvernement, versorgten sie und behielten sie dort über Nacht. Am nächsten Tag schleusten wir sie dann in die Türkei, nach Gaziantep und in Sicherheit.“
Als er selbst Raqqa verlassen will, erlebt Abu Shujaa eine böse Überraschung. Am Stadtrand haben IS-Leute einen Checkpoint eingerichtet. „Ich hatte Glück, dass sie mich nur anhielten, keine Fragen stellten und mich passieren ließen.“
Abu Shujaa ist in der jesidischen Community zu einer Legende geworden. Er führt eine geheime Organisation, die sich über das gesamte, vom IS besetzte Gebiet im Norden Syriens erstreckt und versucht, entführte Jesidinnen aus der Gefangenschaft bei den religiösen Fanatikern zu befreien. Schätzungen zufolge haben die Dschihadisten während ihres Vormarschs durch die Region Sinjar (Westirak) im August 2014 Hunderte von Frauen und Kindern in ihre Gewalt gebracht und nach Nordsyrien deportiert. Dort werden die Frauen als Bedienstete oder Sex-Sklavinnen gehalten. Minderjährige Jungen werden indoktriniert. Wer schon eine Waffe tragen kann, erhält eine Kampfausbildung und wird rekrutiert.
Bevor IS-Kommandos über den Westirak herfielen, arbeitete Abu Shujaa in Sinjar als Kaufmann. Manchmal hatte er geschäftlich auch in Syrien zu tun. Er möchte nicht preisgeben, in welcher Branche er tätig war, sagt aber, dass ihm seine Profession später sehr geholfen habe, das Netzwerk aufzubauen. Schon unter der Herrschaft des Diktators Saddam Hussein unternahm Abu Shujaa illegale Touren nach Syrien. Als er das erste Mal zu einer solchen Reise aufbrach, war er gerade 18 Jahre alt. Wäre er gefasst worden, hätte ihn wohl niemand mehr vor einem Todesurteil bewahren können.
Absolute Geheimhaltung
Hin und wieder postet Abu Shujaa Bilder und Videos von Leuten, die er gerettet hat, auf seiner Facebook-Seite. Auf einer Aufnahme ist ein Propaganda-Bild des IS mit einem jesidischen Jungen zu sehen, der mit einer Pistole auf die Kamera zielt. Ein kurze Zeit darauf veröffentlichtes Bild zeigt Abu Shujaa zusammen mit dem Jungen – nach dessen Befreiung, aber noch immer im selben IS-typischen schwarzen Pyjama.
Jede Zelle von Abu Shujaas Netzwerk besteht aus drei bis sieben Leuten und einer Reihe sicherer Wohnungen, verstreut über das gesamte vom IS besetzte Gebiet in Syrien. Vor sechs Monaten ist es den Dschihadisten gelungen, zwei Mitglieder der Untergrund-Organisation ausfindig zu machen und zu ergreifen. Sie wurden enthauptet, ihre Köpfe auf Pfähle gespießt und mitten auf einer Verkehrsinsel in der Stadt Raqqa zur Schau gestellt. „Wir müssen bei allem, was wir unternehmen, größtmögliche Geheimhaltung walten lassen oder wir sind erledigt. Die Welt kennt uns nicht. Und wenn es anders wäre, würde sie sich wenig um uns scheren. Niemand beschützt diese Gruppe von Todesmutigen, die zugleich Todeskandidaten sind. Wir müssen unsere Leute da ganz allein rausholen“, räsoniert Abu Shujaa.
Seit das Netzwerk besteht, hat er vier Vorstöße in die vom IS kontrollierte Region riskiert, was den Dschihadisten nicht verborgen blieb. In einer Drohbotschaft macht ein tunesischer IS-Milizionär aus seiner Wut und seinen Rachegelüsten keinen Hehl: „Du bist verderbt und ein Feind Gottes. Du hast dein Leben verwirkt. Du wirst in dieser Welt ebenso das Nachsehen haben wie in der Nachwelt. Dein Schicksal ist die Hölle.“
Abu Shujaa nimmt Hassausbrüche wie diesen gelassen hin und zieht an seiner Zigarette. „Der Vormarsch des IS vor einem Jahr war für uns Jesiden eine Katastrophe. Ich konnte gar nicht anders, als etwas dagegen zu tun“, sagt er und beschreibt den vom IS betriebenen Sklavenhandel mit Frauen. Gefangene für 1.000 Dollar und mehr wechseln den Besitzer. Der Preis richtet sich nach Alter, Schönheit und Herkunft. Besonderen Stellenwert hat die Tatsache, ob es sich um eine Jungfrau handelt oder nicht.
„Jemand muss doch versuchen“, so Abu Shujaa, „sie von diesem Martyrium zu erlösen. Das heißt nicht, dass ich besser oder mutiger wäre als die anderen. Aber ich habe schon über meine Verbindungen verfügt, bevor diese Leute Unheil über uns brachten. Das hat sich dann schnell ausgezahlt.“ Bislang sei es seinen Leuten gelungen, etwas über 200 Jesiden zu befreien. Natürlich lässt sich eine solche Zahl schwer verifizieren. Die dem IS Entkommenen loben Abu Shujaa verständlicherweise in den höchsten Tönen und schweigen sich über Details der Befreiung aus.
Im August 2014 brachten IS-Kombattanten die 21-jährige Samira und deren zweijährigen Sohn in ihre Gewalt. Der Ehemann und zwölf Mitglieder dieser Familie werden bis heute vermisst. Samira ist schwanger, als sie verschleppt wird, und bringt in Gefangenschaft eine Tochter zur Welt. Nachdem man sie mehr als zwei Monate lang im Westirak festgehalten hat, wird Samira zusammen mit 30 anderen jungen Frauen und Mädchen im Bus zur IS-Zentrale nach Raqqa gebracht und einem saudischen Kämpfer übergeben. Der zwingt sie sofort, ihrem Glauben abzuschwören.
Nun betet sie regelmäßig den Koran, in der Hoffnung, ihren Geiselnehmer und Patron zu besänftigen. „Eines Tages, es war im April, sagte der Saudi zu mir: ‚Ich schicke dich zurück zu deiner Familie, wenn die mir 70 Millionen irakische Dinar (umgerechnet etwa 53.000 Euro) zahlt‘“, erzählt Samira in ihrem jetzigen provisorischen Zuhause in Irakisch-Kurdistan. „Ich habe den Kontakt zu meinem Vater hergestellt, und man einigte sich schließlich auf 20 Millionen Dinar.“
Doch nachdem der Saudi eine Anzahlung von zehn Millionen Dinar erhalten hat, will er sich nicht mehr an die Vereinbarung halten. Bestürzt kontaktiert Samiras Vater Hassan daraufhin Abu Shujaa. „Und der sagte zu mir, wenn meine Tochter das nächste Mal anrufe, solle ich arrangieren, dass er zwei Minuten mit ihr am Telefon reden kann. Er werde sie da rausholen“, erinnert sich Samiras Vater. Zunächst kann er über einen Mailkontakt weiter mit dem Wächter seiner Tochter Kontakt halten, der ihn beschimpft und ihm Videos gekreuzigter Männer schickt.
Rettung für Samira
Als Abu Shujaa schließlich die Gelegenheit hat, mit Samira am Telefon zu sprechen, indem er sich als wohlhabendes Familienmitglied ausgibt, das einen Teil des Lösegeldes bezahlen könnte, deutet er einen Plan an. An einem Tag Anfang Juni, als ihr Entführer nicht zu Hause ist, geht Samira, in eine schwarze Abaya gekleidet, mit ihren beiden Kindern spazieren. Ein Mitglied des Rettungsnetzwerks, das auf dieses Zeichen gewartet hat, fährt mit seinem Peugeot rechts ran, hilft den Kindern in den Wagen und bringt sie so schnell wie möglich in ein Gebiet außerhalb der Stadt Raqqa. Zusammen mit einer anderen geretteten Familie werden Samira und ihre Kinder danach aus dem vom IS kontrollierten Gebiet herausgeschleust.
„Ich hatte immer gedacht, ich würde meine Familie nie wiedersehen“, sagt Samira heute und muss dabei die Tränen unterdrücken. „Doch Abu Shujaa und seine Männer haben mich gerettet. Ihn persönlich habe ich an der Grenze zum Irak getroffen. Was er leistet, ist unfassbar. Mir fehlen die Worte ...“
In der Annahme, Samira sei vielleicht zu ihrer Familie im Irak zurückgekehrt, schickt ihr ehemaliger Wächter an den Vater Anfang Juli eine Nachricht und fragt, ob er sie sprechen könne. Eine Antwort hat er nie erhalten.
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