Vergessene Tode

Flüchtlingskatastrophe Immer mehr Menschen nehmen das Risiko, im Mittelmeer oder dem Golf von Aden zu ertrinken, auf sich, um dem Hunger und Elend in ihren Heimatländern zu entfliehen.

„Tot bin ich sowieso, vielleicht überlebe ich die Überfahrt mit dem Boot, dann habe ich eine 1%ige Chance zu überleben“ – dies ist die in Jemen vom hohen Flüchtlingsrat der UN (UNHCR) festgehaltene Stimme eines der tausenden von Flüchtlingen, die sich im Jahr 2008 unter größter Gefahr auf das Meer hinaus gewagt haben. Keiner weiß, wie viele dieser todesmutigen und verzweifelten Menschen es im vergangenen Jahr wirklich gegeben hat, keiner weiß, wie viele von ihnen auf See umkamen, ermordet von Menschenhändlern oder aufgrund der mangelnden Seetauglichkeit der überfüllten und schlecht ausgestatteten Boote. Nur die schlimmsten Desaster haben die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sich gezogen, wie z.B. die 300 Menschen, die vergangenen Sonnabend in der Nähe der Andaman Inseln in der Bucht von Bengalen verschollen sind. 412 hatten Bangladesch mit dem Ziel Thailand oder Malaysia verlassen. Es heißt, sie seien 18 Tage lang nur mit einer Plastikplane als improvisiertem Segel umhergetrieben, nachdem ihr Motor ausgefallen war, und seien dann ins Wasser gesprungen, als Land in Sicht kam.

Der Schrecken derartiger Reisen wird nicht dadurch gemindert, dass sie alltäglich geworden sind. Vielmehr macht das Ausmaß der Krise die Gleichgültigkeit der Weltöffentlichkeit noch viel schockierender. Ungefähr 30.000 Bootsflüchtlinge sind in diesem Jahr auf der süditalienischen Insel Lampedusa gelandet, 1.700 allein über Weihnachten und 900 im Verlauf der vergangenen Woche. Weitere 44000 versuchten die noch gefährlichere Überfahrt von Somalia nach Jemen. Das UNHCR schätzt, dass bereits 2007 bei dieser Überfahrt 1400 Menschen ums Leben gekommen sind, und da war das Verkehrsaufkommen noch weit geringer.

Von den Überlebenden versuchen viele, Saudi-Arabien zu erreichen, um dort illegale Arbeit zu finden. Die, die es schaffen, werden aber nach Mogadischu zurückgebracht, wo die Zustände so schrecklich sind, dass viele die Überfahrt ein zweites Mal versuchen. Im englischen Fernsehen hat Aidan Hartley diesen Monat die Folgen beschrieben: „Die Boote der Schlepper sind voll wie Sklavenschiffe ... Leichname werden an die Strände gespült und Fischer vergraben sie so hastig im Sand, dass oft noch die Finger herausragen.“

Der Jemen hat getan, was er konnte und somalischen Flüchtlingen Asyl gewährt – 100.000 von ihnen leben dort in extremer Armut. Wie schlimm auch immer die Überfahrt sein mag, sie ist allemal besser als das Leben im schlimmsten aller Länder, in denen jegliche staatliche Ordnung zusammengebrochen ist.

Das UNHCR berichtet jeden Monat von einer neuen Katastrophe. 52 Tote im September, als ein Boot auseinanderbrach; im Oktober wurden 150 Leute über Bord geworfen, von denen nur 42 die Küste erreichten; im November wurden 40 Leute dazu gezwungen, ins tiefe Wasser zu gehen; im Dezember ertranken 20. Die Welt macht sich Sorgen um den Anstieg der Piraterie im Golf von Aden, aber es kommen wesentlich mehr Leute bei dem Versuch um, auf dem Seeweg ihrem Elend zu entfliehen. Beides sind die Folgen extremer Armut und dem Zusammenbruch Somalias. Das UNHCR versucht zu helfen, aber es ist keine Linderung in Sicht.

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Editorial | The Guardian

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