Vergiss mein (nicht)

Suchergebnisse Das „Recht auf Vergessenwerden“ bereitet Google und Verlagen gleichermaßen Kopfzerbrechen – denn es bedroht die freie Meinungsäußerung
Da ganz nichts passieren: Google in einer analogen Dokumentation (Tafel, Kreide)
Da ganz nichts passieren: Google in einer analogen Dokumentation (Tafel, Kreide)

Foto: Adam Berry/ AFP/ Getty Images

Das „Recht auf Vergessenwerden“ bereitet Google und Verlagen gleichermaßen Kopfzerbrechen. In Folge einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs kann jede Person mit ihr zusammenhängende Einträge aus den gelisteten Google-Suchergebnissen löschen lassen, wenn diese „veraltet“ oder „irrelevant“ sind – selbst, wenn der er Inhalt der betreffenden Links wahrheitsgetreu, sachlich und zutreffend ist. Bislang hat Google laut eigener Aussage siebzigtausend solcher Löschanträge erhalten.

Auch sechs Guardian-Artikel, mindestens einer von der BBC und mehrere vom Online-Portal der Daily Mail waren durch die Umsetzung des Urteils durch Google betroffen. Am Donnerstag erhielten die entsprechenden Verlage automatisch generierte Mitteilungen darüber, dass einige ihrer Artikel teilweise nicht mehr aufgeführt würden. Nun herrscht nicht wenig Verwirrung darüber, was das eigentlich bedeutet. Denn erstens verschwindet durch solche Löschungen keine einzige Webseite aus dem Netz: Die Artikel sind weiterhin da. Sie sind nur unter Umständen sehr viel schwerer zu finden, weil Google sie aus den Suchergebnissen für den Namen des Antragstellers entfernt hat.

Ein hypothetisches Beispiel: Der Guardian bringt eine Geschichte über einen gewissen John Doe, der in der Grafschaft Surrey ein illegales Heim für Katzenjunge betreibt. Wenn dieser John Doe sich dann Jahre später bei Google beschweren würde, würde der Artikel möglicherweise von der Ergebnisliste der Suche nach dem Schlagwort „John Doe“ entfernt werden. Würde man aber die Begriffe „illegales Heim Kätzchen Surrey“ eingeben, könnte er aber durchaus noch erscheinen.

Dies kann seltsame Auswirkungen haben: Der „entfernte“ BBC-Artikel bezog sich auf Stan O'Neal, den ehemaligen Chef der US-Investmentbank Merrill Lynch. Offenbar war es aber gar nicht O'Neal, der an dem Artikel - der übrigens weiterhin in den Suchergebnissen für seinen Namen erscheint – Anstoß genommen hatte. Vielmehr hatte sich jemand beschwert, der den Artikel kommentiert hatte.

Hier ist die freie Meinungsäußerung unter Umständen ernsthaft bedroht. „Veraltet“ und „irrelevant“ sind weit gefasste Begriffe, die Interpretationsspielraum zulassen – zumal das Gericht es versäumt hat, sie in seinem Urteil zu genauer zu definieren. Der Guardian oder die Daily Mail könnten einen Artikel aus dem Jahr 2005 als absolut aktuell und relevant betrachten, wenn die Person, um die es darin geht, noch im Geschäft ist. Die betreffende Person hingegen dürfte wahrscheinlich anderer Auffassung sein. Das Urteil überträgt die Entscheidung an Google.

Google kommt somit eine enorme Bedeutung bei der Kontrolle und Überwachung des Internet zu. Darauf scheint der Konzern aber nicht besonders erpicht zu sein: Wenn Google zu viele (oder überhaupt irgendwelche) Löschungen verweigert, könnte der Konzern sich in zahlreiche Streitfälle mit den europäischen Informationsbeauftragten verwickelt sehen, die ihn viel Zeit und Geld kosten würden. Ebenso wenig hat man ein Interesse daran, täglich tausende Anträge auf Löschung bearbeiten zu müssen, die eine manuelle Überarbeitung der Suchergebnisse nach sich ziehen.

Insofern kommt es Google nur allzu gelegen, dass man einen Weg gefunden hat, die Medien dazu zu bringen, nun Krawall zu schlagen: Kaum eine Nachrichtenorganisation der Welt ist erfreut darüber, wenn die Erzeugnisse ihrer Arbeit unterdrückt werden. Ein paar automatisch erstellte Nachrichten später ist die Geschichte wieder in den Schlagzeilen – Google wird darüber nicht unglücklich sein.

Doch allein die Tatsache, dass Google sich über Änderungen des Urteils oder bei seiner Umsetzung freuen würde, heißt nicht, dass diese nicht auch uns zugute kommen würden. Immerhin geht es hier um die Effektivität des Internet als Recherchewerkzeug: Glauben wir wirklich, dass das Internet besser wäre, wenn jeder darin Dinge ausradieren lassen könnte, egal, ob sie stimmen oder nicht? Und wer sollte darüber entscheiden, was bleibt und was weg kommt? Darüber wird man sich rasch klar werden müssen.

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Geschrieben von

James Ball | The Guardian

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