Nur wenige Leute wissen, wie es auf dem Meeresgrund aussieht – zumindest war es so, bevor die spill-cam erfunden wurde, jene Kamera, die uns den fesselnden Live-Stream eines beschädigten Bohrlochs in unsere Wohnzimmer lieferte. 87 Tage lang strömte nach der Explosion der Bohrinsel Deepwater Horizon Öl in den Golf von Mexiko.
Samantha Joye allerdings war die Welt dort unten schon damals vertraut. Die Meereswissenschaftlerin der Universität Georgia befasst sich seit Jahren mit dem Einfluss von Öl und Gas auf die marine Lebenswelt im Mississippi-Canyon. Und ein Jahr nach der Explosion gut 60 Kilometer vor der Küste von Louisiana, die zum Austritt von mehr als vier Millionen Barrel Rohöl führte, kämpft sie nun gegen die offizielle Behauptung, d
auptung, das Leben im Golf sei längst wieder dabei sich zu normalisieren.Denn was Joye aus ihrem U-Boot erkennt, sieht anders aus. Als sie im Dezember abtauchte, sechzehn Kilometer vom Bohrloch entfernt, landete ihr Fahrzeug auf einem Meeresgrund, der vier Zentimeter dick mit dunkelbraunem Schmodder bedeckt war. Fette Schlickschwaden waren über die Korallen drapiert wie Spinnennetze in einem seit Langem verlassenen Haus. Die wenigen Geschöpfe, die noch am Leben waren – einige Krabben zum Beispiel –, hatten nicht einmal die Kraft zu fliehen. „Normalerweise rennen sie einfach davon, wenn man sich ihnen nähert“, sagt sie. „Aber dieses Mal rannten sie nicht, sondern saßen einfach nur da, benebelt und betäubt. Sie haben sich definitiv nicht normal verhalten.“ Was schließt sie daraus? „Ich halte es für möglich, dass 50 Prozent des Öls immer noch da draußen herumschwimmen.“Kritiker werden nicht gehörtZu einer Zeit, in der das Weiße Haus, der Kongress und die Ölfirmen versuchen, die Katastrophe von Deepwater Horizon hinter sich zu lassen, ist dies keine willkommene Botschaft. Die Bodenproben von ihren Exkursionen und nicht zuletzt ihre direkte Art haben Joye und alle anderen Kollegen, die in Bezug auf den Zustand des Golfes zu anderen als den offiziellen Ergebnissen gekommen sind, mit den Wissenschaftlern der Obama-Regierung in einen Konflikt gestürzt. Es macht ihr zu schaffen, dass sie und andere Kritiker einfach nicht gehört werden. „Es ist wahnsinnig frustrierend.“Im vergangenen Mai hatte ihr Forschungsteam als Erstes jene großen Schwaden von Öltröpfchen entdeckt, die unterhalb der Wasseroberfläche im Golf vagabundierten. Joyes Entdeckung legte nahe, dass weit mehr Öl und Gas ins Meer gelangt waren, als man gedacht hatte. Wissenschaftler der Regierung bestritten dies jedoch. Bereits im Dezember widerlegte Joyes Team die Behauptung des Weißen Hauses, das Öl sei weitgehend verschwunden, als es auf dem Meeresgrund eine viereinhalb Quadratkilometer große, dicke Schicht aus Öl, toten Seesternen und anderen Organismen nachwies. Bald wird Joye ein neues wissenschaftliches Paper veröffentlichen, und in der vergangenen Woche ist sie zu einer weiteren Forschungstour aufgebrochen – eine von mehreren, die für diesen Sommer im Umkreis des Bohrlochs geplant sind. Wird sie alle Kollegen davon überzeugen können, dass der Großteil des Öls immer noch am Meeresboden haftet? Wie lange wird es dort bleiben und welche Auswirkungen wird es in Zukunft haben?Zweifelsohne ist seit Beginn der Katastrophe Zeit vergangen. Nach 87 Tagen war es den Ingenieuren von BP im vergangenen Juli gelungen, das Bohrloch zu verschließen. Bilder von mit Öl verklebten Pelikanen gehören seither der Vergangenheit an. Gleiches gilt für die verschiedenen wissenschaftlichen Untersuchungen: Die meisten sind abgeschlossen und belegen die Schuld von BP und anderen beteiligten Unternehmen: Transocean gehörte die Deepwater-Horizon-Bohrinsel. Halliburton war für den Versuch verantwortlich, das Bohrloch mit Zement zu verschließen, was von den Ermittlern scharf kritisiert wurde.Neue Lizenzen für BohrungenZwar erwarten BP noch strafrechtliche Konsequenzen, aber insgesamt befindet sich die Ölindustrie wieder im Aufwind. Die Obama-Regierung hat im vergangenen Monat mit der Vergabe neuer Lizenzen für die Bohrlöcher im Golf begonnen – die ersten seit der Explosion. In Bezug auf die wirklich drängenden Fragen, die sich angesichts der Katastrophe stellen, muss der Kongress allerdings erst handeln: Angefangen mit der Erhöhung der Haftung der Ölunternehmen bis hin zu schärferen Umweltschutz-Auflagen. Ken Feinberg, der unabhängige Verwalter des 20 Milliarden Dollar schweren Kompensationsfonds, sagt unterdessen, er stehe kurz davor, die Entschädigung abzuschließen, ohne die verfügbaren Gelder nur annähernd ausgeschöpft zu haben. Im vergangenen Jahr hat er 3,6 Milliarden ausbezahlt. Die Aufräum- und Säuberungsarbeiten gehen ebenfalls ihrem Ende entgegen. Ihre Kosten werden sich für BP bei ungefähr 13 Milliarden einpendeln. Das Unternehmen könnte zwar für weitere 18 Milliarden an Strafzahlungen aufkommen müssen, wenn laut Gesetz für jedes ausgelaufene Barrel 4.300 Dollar fällig werden. Trotzdem ist Feinberg optimistisch. Reportern erzählte er, der Golf könne sich schon 2012 vollständig erholt haben.Die Wissenschaftler der Regierung gehen nicht so weit wie Feinberg. Ein Sprecher der National Oceanic and Atmospheric Agency (NOAA) sagte gar, es gebe „keine Basis für die Annahme, der Golf werde sich bis 2012 erholen“, und warnte davor, dass die gravierenden Folgen der Havarie möglicherweise erst in Jahrzehnten zutage treten könnten. Die Küste sei noch immer auf einer Länge von 60 Kilometern mit Öl verschmutzt, noch immer würden Teermatten an den Stränden von Louisiana, Mississippi, Alabama und der Spitze Floridas angespült werden. Und auch wenn der Golf wieder für den Fischfang geöffnet ist, seien viele Austernnester vernichtet worden, als die staatlichen Behörden frisches Süßwasser in den Golf leiteten – in der Hoffnung, das Öl so zurückdrängen zu können. Auf einem öffentlichen Treffen, das im vergangenen Monat in Biloxi, Mississippi, stattfand, erzählten die Fischer, ihre Krabbennetze seien immer noch voller Öl, wenn sie aus dem Wasser gezogen werden.Wie können also die Offiziellen so tun, als sei die Katastrophe vorbei? „Da unten ist noch nichts in Ordnung. Da gehen noch jede Menge merkwürdige Dinge vor sich: Schildkröten, Delfine und Krabben werden ans Ufer gespült. Das ist einfach nur bizarr. Wie kann man das als zufällig abtun?“, fragt Joye. Mehr als 150 tote Delfine, die Hälfte davon noch nicht ausgewachsen, wurden allein 2011 an Land gefunden. Mindestens acht von ihnen waren mit Rohöl verschmiert, das dem BP-Leck zugeordnet werden konnte. Seit Mitte März wurden 87 vom Aussterben bedrohte Meeresschildkröten tot aufgefunden. „Es macht einen verrückt, dass so viel Energie darauf verwendet wird, den Eindruck zu erwecken, alles sei in bester Ordnung und bis 2012 wieder beim Alten.“ Es gibt allerdings auch Studien, die Joyes Ergebnissen widersprechen. Terry Hazen von den Lawrence Berkeley National Labs konnte sechs Wochen, nachdem es gelungen war, das Bohrloch zu schließen, keinerlei Ölspuren unter Wasser finden. Er fand hingegen Bakterien, die Öl gefressen hatten. John Kessler, Forscher an der Texas A, fand heraus, dass große Mengen an Methangas, die zusammen mit dem Öl freigesetzt worden waren, ebenfalls schnell abgebaut wurden.Unglückliche BakterienJoye lassen diese Resultate unbeeindruckt. Mitarbeiter in ihrem Labor haben monatelang experimentiert, um herauszufinden, wie das Öl zersetzt werden könnte, wenn es erst einmal auf den Meeresboden gesunken ist. „Die Mikroorganismen sind nicht glücklich. Sie können dieses Zeug nicht verwerten. Eigentlich sollten sie ein Festessen abhalten, aber das tun sie nicht. Wie kommt das? Ich habe keine Ahnung, aber in unseren Versuchen kombinieren wir eine Menge unterschiedlicher Faktoren, um herauszufinden, was ihre Aktivität reguliert.“Als vor einem Jahr die ersten Berichte über die Explosion auf der Deepwater Horizon eintrafen, lag Joye mit Rückenschmerzen im Bett. Aber ein Teil ihres Teams war nur ein paar Meilen von dem Bohrloch entfernt – das einzige Forschungsschiff in der Gegend – und stellte Bilder von der brennenden Bohrinsel ins Netz. In jenen Tagen habe sie nur einen Gedanken im Kopf gehabt, sagt Joye: Dass man mehr Forschungsschiffe losschicken müsste, um zu sehen, was mit dem Öl geschieht. Diese Wochen waren äußerst frustrierend. BP und die amtlichen Behörden hielten sich mit Schätzungen über den Umfang des austretenden Öls deutlich zurück.Glücklicherweise hatte Joye bereits eine Forschungsfahrt geplant, die sie nun nutzen konnte, um nach Spuren zu suchen. Dabei fanden sie dann die im Wasser aufgelösten Schwaden von Öltropfen und stellten sofort ein komplett mit Messergebnissen versehenes Update auf die Website der Untersuchungskommission. Die Reaktion darauf schockierte sie. Der damalige BP-Geschäftsführer Tony Hayward leugnete schlichtweg, dass es Öl in der Tiefe des Meeres geben könnte. „Das Öl befindet sich an der Oberfläche“, erklärte er während eines kurzen Besuches in der für die Säuberungsarbeiten zuständigen Einsatzzentrale in Louisiana gegenüber Journalisten. „Es gibt keine Schadstoffschwaden.“Entmutigende ReaktionenDie Reaktion der Offiziellen muss noch entmutigender gewesen sein. Jane Lubchenco, Chefin des NOAA und selbst Meereswissenschaftlerin, erklärte, es sei in keiner Weise erwiesen, dass sich Öl in der Tiefe befinde. „Wir müssen sichergehen, dass wir keine voreiligen Schlüsse ziehen“, sagte sie damals im Fernsehen. Jenseits der Kameras wurden Joye und andere Kollegen mit Anrufen von wutentbrannten Vertretern von NOAA und anderen Regierungsorganisationen bombardiert. „Ich fühlte mich, als sei ich in der dritten Klasse und mein Lehrer käme auf mich zu, schlüge mir mit dem Lineal auf die Hand und sagte mir: ,So etwas sagt man nicht!‘ Sie waren sehr verärgert“, erinnert sich Joye.Einige Kollegen sehen in dem Konflikt zwischen Joye und Wissenschaftlern der Regierung einen Beleg für das enorme Ausmaß der Katastrophe. Niemand habe bislang Erfahrungen mit einer solchen Menge Öl über einen so langen Zeitraum machen können. Es ist möglich, dass beide Seiten Recht behalten werden. Joyes Wille ist bis dahin ungebrochen. „Ich glaube an den Golf von Mexiko und ich liebe das Ökosystem, deshalb habe ich nicht damit aufgehört zu machen, was ich mache, und zu sagen, was ich sage“. Wenn das Gegenteil belegt werden könne, werde sie das auch einsehen. „Aber“, fügt sie hinzu, „bislang habe ich nichts gesehen, was meine Meinung ändern könnte.“
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