In einem improvisierten Vorlesungssaal treten neun Laien gegen die größten Ökonomen aller Zeiten an – und landen einen Treffer nach dem anderen. David Ricardo zum Beispiel, der Klassiker aus dem 18. Jahrhundert und immerhin Vordenker des Freihandelssystems, muss ziemlich Federn lassen. Mit ernster Tagesschau-Stimme liest eine Kursteilnehmerin vor: „Die Gesetze, nach denen die Verteilung des Ertrags der Erde stattfindet zu bestimmen, ist die Hauptaufgabe der Nationalökonomie.“ – „Das reicht doch aber nicht“, ruft eine andere. Sollten Ökonomen nicht auch untersuchen, wie die Grundbedürfnisse aller Menschen gestillt werden können? „Wir alle brauchen ein Dach über dem Kopf, wir alle müssen überleben.“ Außerdem gehöre die Erde nicht nur den Menschen allein, spinnt sie die Ricardo-Kritik weiter. Ihr Urteil ist forsch: „Das ist doch Quatsch.“
Manchmal nimmt Demokratie die Form einer Wahlurne an, an anderen Tagen kommt sie als wütende Demo daher. Aber an diesem sonnigen Vormittag unter der Woche sieht Demokratie wie dieser niedrige Versammlungsraum in einer umgewidmeten Kirche in Levenshulme, südöstlich von Manchester, aus. Keiner der „Studenten” hier hat je ein Wirtschaftslehrbuch gelesen, die meisten sind Rentner und Rentnerinnen, haben ihr Leben lang gearbeitet. Auf die Frage, wer das Gefühl hat, Kontrolle über die Wirtschaft zu haben, hebt keiner die Hand. „Wer bestimmt über die Wirtschaft?“, fragt die Kursleiterin Nicola Headlam. „Unternehmer.“ „Die Regierung.“ „Die Reichen.“ „Journalisten – die von den Reichen bezahlt werden.“
Für die Kursteilnehmer ist Wirtschaft etwas, das ihnen angetan wird, von Leuten, die weit weg sitzen, im Parlament oder dem Finanzdistrikt der Londoner City. Sie baden es aus, wenn der Staat die Ausgaben kürzt, sie kämpfen mit dem desolaten Zustand der privatisierten Bahn und beobachten, wie ihre Nachbarn sich bis über beide Ohren verschulden – haben aber keine Erklärung, warum das eigentlich so ist.
In einer Ecke sitzt Sue O’Connor. Ihre Teilnahme hier sei „gesponsert von Visa”, scherzt sie. Der Witz übertüncht ihre Angst davor, dass ihre Behindertenrente gekürzt wird. Durch eine Krebserkrankung verlor sie ihren Job und landete in einem Obdachlosen-Wohnheim. Jetzt, mit 64, leidet sie an Arthritis, aber man will ihr das Motability-Auto, das sie dank ihres Behindertenstatus günstig leasen kann, wegnehmen.
Wer hat die Kontrolle?
Als Sue O’Connor auf der Hauptschule war, hieß es, ihre Klasse sei sowieso zu dumm für Mathe. Weil sie als Teenager den Umgang mit Zahlen nie richtig gelernt hat, hat sie heute noch das Gefühl, sie zähle nicht. „Wissen ist Macht“, sagt sie. „Wenn ich in diesem Kurs etwas lernen kann, werden mir andere vielleicht zuhören.“
Die 70-jährige Brigitte Lechner ist selbstbewusster, sie stellt sich als „rabiate Feministin“ vor. „Die Wirtschaft ist ein System“, sagt sie. „Ich kenne Systeme wie das Patriarchat und weiß, wie sie aufgebaut sind, damit bestimmte Leute darunter leiden ... Jetzt möchte ich wissen, nach welchen Regeln die Wirtschaft funktioniert.“ Kursleiterin Headlam nickt: „Irgendwann hat irgendwer diese Regeln gemacht. Sie sind keine Naturgesetze.“ Aber sie legten fest, „wer was wo und warum bekommt“.
Bis 2008 hätte jemand wie Sue O’Connor immer wieder zu hören gekriegt, dass es ihre Schuld sei, wenn sie nicht vorankam, nicht die Schuld des Systems. Dann brach die Finanzkrise aus, die zu einer Wirtschaftskrise wurde. Als die Queen fragte, wieso kein Ökonom den Zusammenbruch vorhergesehen hatte, traf sie den Nagel auf den Kopf: Vielleicht waren die, die die Gesetze der Wirtschaft aufstellten und ihre Einhaltung überwachten, doch nicht so allwissend?
Eine der größten Auseinandersetzungen um die Ausrichtung der Ökonomik der letzten Jahre begann gar nicht weit von hier. An der Universität Manchester hatten es 2013 einige Volkswirtschaftsstudenten im Grundstudium satt, abstrakte Modelle zu studieren, während die Eurozone den Bach runterging. Gemeinsam mit Studenten aus der ganzen Welt, etwa dem Netzwerk Plurale Ökonomik in Deutschland, forderten sie, dass sich ihr Curriculum ändern müsse. Da gab es wenig, was über die orthodoxen Lehren vom freien Markt hinaus ging; keine Kritiker wie Keynes oder Marx, trotz ihrer offensichtlichen Relevanz. So begann eine folgenreiche Auseinandersetzung zwischen einer Handvoll Teenagern und den Professoren, die ihre Examensarbeiten benoteten.
Fünf Jahre danach steht das Bestreben, die Wirtschaftswissenschaften zu öffnen, auf einer breiteren Grundlage. Manche Studenten von damals sind mittlerweile Staatsbeamte, die auf eine Veränderung der staatlichen Wirtschaftspolitik drängen. Andere leiten gemeinnützige Organisationen wie Economy, die den Wirtschafts-Crashkurs in Levenshulme anbietet. Headlam gesteht den Kursteilnehmern: „Wir hatten keine Ahnung, ob jemand kommen würde.“ Sie arbeitet ehrenamtlich, und alle fünf Kurse für 50 bis 80 Teilnehmer, die jeweils zwei Monate dauern, kosten zusammen so viel wie die Studiengebühren für ein einziges Wirtschaftsstudium.
Das Vertrauen in die Ökonomik ist gründlich beschädigt, zugleich fehlen den Bürgern die Werkzeuge, um die Disziplin so zu erneuern, dass sie etwas mit ihren Bedürfnissen zu tun hätte. Eine Umfrage im Jahr 2015 ergab, dass mehr als 60 Prozent der Befragten in Großbritannien nicht wussten, was das Bruttoinlandsprodukt ist.
Alle im Kurs bringen ihre ökonomische Lebenserfahrung mit. In ihrem Elektrorollstuhl stellt Joanne Wilcock fest, dass „alles so viel teurer ist, wenn man behindert ist“. Stimmt genau – aber man liest das selten, wenn in der Zeitung von den neuesten Inflationszahlen die Rede ist. „Viele Denkfabriken und Abgeordnete kommen auf gute Ideen, wie man unsere Wirtschaft verändern könnte, aber sie sind alle in ihrer politischen Blase gefangen“, sagt Economy-Chef Joe Earle. „Die Durchschnittsbürger haben fast kein Mitspracherecht bei einer Frage, die ihr Leben bestimmt.“
Anders hier in diesem Kurs: Man begegnet sich auf Augenhöhe, niemand nimmt die Rolle des allwissenden Experten ein. Am Ende der Stunde geht es einmal reihum, was für die Teilnehmer heute das Interessante war. Als Aklima Akhter dran ist, die erst 2013 nach Großbritannien kam und still mit ihrem weißen Kopftuch im Seminar saß, sagt sie erstmal nichts. Dann, zögerlich: „Es ist schwierig für mich ... das Thema, die Sprache.“ Alle sehen sie ermutigend an, aber da fährt Akhter schon flüssig fort: „Mein Lieblingsbegriff war ‚Verstaatlichung’. Denn wenn privatisiert wird, profitieren nur die Reichen.“
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