Verstrahlte Hirne

Risiko Machen Handys Krebs? Die Forschung versucht es herauszufinden. Und scheitert an den Grenzen ihrer Methodik

Mobiltelefone verursachen „möglicherweise“ Hirnkrebs.Zu diesem Ergebnis kommt ein Bericht, den die Internationale Agentur für Krebsforschung (IARC) kürzlich veröffentlicht hat. Mehr als 3.000 Zeitungsartikel berichteten über das Studienresultat. Das eigentlich interessante aber sind die methodischen Fragen.

Zunächst Transparenz: In der Wissenschaft geht es darum, seine Arbeit zu zeigen. Was sagt dieser Bericht? Wie geht er mit widersprüchlichen Daten um? Niemand kann das beantworten, weil der Bericht nicht verfügbar ist. Niemand, der darüber schrieb, hat die Studie gelesen. Es gab nur eine Pressemitteilung. E-Mails, in denen ich die IARC um Details bat, blieben unbeantwortet.

Das ist mehr als ärgerlich. Telefone stellen, wenn überhaupt, dann eine Risiko dar, über das die Leute selbst entscheiden können. Aber sie brauchen dafür Informationen. Das Wort „möglicherweise“ informiert niemanden. Wie könnte man dem anhand der schon veröffentlichten Forschung Substanz verleihen, und wo liegen die Grenzen der Forschung?

Da ist die Häufigkeit von Hirntumoren: Sie hat sich trotz der zunehmenden Handynutzung kaum verändert und wird von vielen Dingen beeinflusst. Idealerweise müsste man an Individuen überprüfen, ob häufiges Telefonieren mit dem Handy mit Hirnkrebs zusammenhängt, aber diese Tumoren sind selten – pro Jahr etwa zehn Fälle auf 100.000 Menschen –, und das macht es schwierig. Für die Erforschung von Herzleiden etwa nimmt man einige Tausend Menschen, untersucht, was man für relevant hält – Rauchen, Diät – und wartet dann ein paar Jahre, bis ein Teil der Probanden erkrankt. Für die Untersuchung seltener Tumoren bringen solche prospektiven Kohortenstudien aber wenig, weil nicht genügend Fälle auftreten, um die echte Ursache auszumachen. Man unternimmt deshalb retrospektive Fall-Kontrollstudien: Man sammelt Fälle; sucht eine Gruppe ähnlicher Menschen, die aber nicht an der Krankheit leiden; und dann schaut man, ob die Krebspatienten mehr oder weniger oft mit Handys telefoniert hatten.

Überholte Technologien

Das klingt gut, aber solche Studien werden durch das Gedächtnis verzerrt. Wenn jemand etwa einen Tumor an der linken Kopfseite hat, dann könnte er eher glauben, dass die Seite, auf der er häufiger telefoniert hat, die linke war. Oder: In einer älteren Studie gaben zehn Krebspatienten an, mehr als zwölf Stunden am Tag telefoniert zu haben. Zwölf Stunden! Überhaupt, die Zeit: Möglich, dass Handys Krebs verursachen, wenn man sie 30 Jahre lang benutzt. Wir verfügen aber nur über Daten für zehn oder 20 Jahre, sodass das echte Risiko nicht erkennbar werden kann. Und natürlich wandeln sich Telefone mit der Zeit: Vor 20 Jahren verfügten sie zum Beispiel über viel stärkere Sender. Das hieße, die Studie würde die Auswirkungen einer längst überholten Technologie messen.

Und schließlich gibt es ein weiteres Problem: Die so genannte Interphone-Studie befand, dass das Telefonieren mit einem Handy das Tumorrisiko insgesamt verringert – was doppelt überraschend ist. Denn wer sehr, sehr viel telefoniert, hat dieser Studie zufolge ein um 40 Prozent erhöhtes Tumorrisiko. Aber was heißt das? Wenn jeder sein Handy sehr, sehr oft verwenden würde und das zweite Studienergebnis stimmt, ergibt das eine Zunahme um vier Fälle, also 14 statt zehn je 100.000 Menschen.

So sieht es „möglicherweise“ aus.

Ben Goldacre ist Autor der wöchentlichen Kolumne Bad Science im GuardianÜbersetzung: Steffen Vogel

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Ben Goldacre | The Guardian

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