Sachbuch Hitler-Biograph Ian Kershaw will in einem neuen Buch die Frage klären, weshalb die Deutschen bis zum bitteren Ende mitkämpften. Doch dann verlegt er sich aufs Erzählen
Gibt es über das Ende des „Dritten Reiches“ denn noch irgendetwas zu sagen? Zu dem Thema wurden immerhin schon Tausende von Büchern geschrieben. Erst in jüngster Vergangenheit wurden viele hervorragende Arbeiten von Antony Beevor, Max Hastings, Roger Moorhouse, Mark Mazower und Richard J. Evans – um nur ein paar zu nennen – veröffentlicht. Warum also fügt Hitler-Biograph Sir Ian Kershaw dem Stapel noch ein weiteres hinzu? Weil bisher noch niemand versucht habe, so seine Behauptung, die wichtigste Frage zu beantworten: Warum die Deutschen bis zum bitteren Ende gekämpft haben, noch lange, nachdem jedem vernünftigen Menschen längst klar gewesen sein musste, dass der Krieg verloren war und seine Verlängerung lediglich zu eine
iner weiteren Zerstörung deutscher Städte und einer Vergrößerung des Leids für seine Bevölkerung führen würde. Warum wurde Hitlers selbstmörderischen Befehlen immer noch Folge geleistet? Kershaw argumentiert, die Antworten hierauf könnten in der Untersuchung der damals in Deutschland herrschenden Herrschaftsstrukturen und Gemütsverfassungen gefunden werden.Man sollte meinen, das Thema eigne sich gut für einen wissenschaftlichen Artikel oder ein kurzes, pointiertes Essay. Doch Kershaw behandelt es in epischer Breite und führt uns von den Nachwirkungen des gescheiterten Hitler-Attentats vom 20. Juli 1944 über die deutsche Gegenoffensive in den Ardennen, dem Zusammenbruch der Ostfront und der Belagerung Berlins bis zu den letzten Szenen im Bunker und der Kapitulation Nazi-Deutschlands im Mai 1945.Schnell treten dabei drei Antwortkonstellationen hervor: bedingungslose Kapitulation, Terror und charismatische Führung. Churchill und Roosevelts Beharren darauf, dass es keinen separaten Friedensvertrag mit dem Westen geben könne, bedeutete in Kombination mit den Aktionen der Wehrmacht in Russland und dem Verhalten der Roten Armee auf deutschem Grund und Boden, dass ein jeder deutscher Führer zum Weiterkämpfen gezwungen gewesen wäre, um Soldaten wie Zivilisten davor zu bewahren, in die Hände der Sowjets zu fallen.Fragen, die das eigene Material aufwirft, werden nicht verfolgtHitler, der seine Autorität fast bis zum Ende aufrecht erhalten konnte, war fest entschlossen, die Deutschen für seine Fehler büßen zu lassen. Der Terrorapparat unterdrückte wirkungsvoll jede abweichende Meinung. Innerhalb des Militärs wurden Deserteure von SS Reichsführer Heinrich Himmler und fanatischen Kommandeuren wie Feldmarschall Schörner skrupellos exekutiert. Goebbels machte dasselbe an der Heimatfront, während der Reichsminister für Bewaffnung und Munition, Albert Speer, Wunder der Improvisation vollbrachte (und dabei schreckliches Leid über die Zwangs- und KZ-Arbeiter brachte), damit die Fabriken weiter produzieren konnten. Die von Martin Bormann geführte Nazi-Partei hatte viele staatliche Funktionen übernommen und der Volkssturm stellte, obwohl er militärisch nutzlos war, ein weiteres Kontrollinstrument dar. Anfang 1945 hatten viele Deutsche aufgrund der verheerenden alliierten Bombenangriffe und dem feigen und selbstsüchtigen Verhalten der Parteiführung das Vertrauen in Hitler verloren und sahen sich selbst eher als unglückliche Opfer denn als eifrige Anhänger des Regimes. Dennoch gab es immer noch keine wirkliche Opposition.Diese bekannte Geschichte wird hier auf traditionelle Art und Weise erzählt, wobei die schmierigen Manöver von Hitlers vier Paladinen Goebbels, Himmler, Bormann und Speer viel Platz erhalten. Kershaw geht die schuljungenhafte Freude an pikanten gesellschaftlichen Details ab, wie sie ein Lord Dacre an den Tag legt. Sein Ton ist nüchtern, seine Prosa vorsichtig und professionell. Der chronologische Zugang sorgt für viele Wiederholungen, schafft es aber nicht, den schrittweisen Zusammenbruch des Nazi-Systems und die Erosion seiner Unterstützerbasis begreiflich zu machen. Wo Kershaw von der Bombardierung Dresdens, den Todesmärschen von Auschwitz und der Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten erzählt und dabei viele Details aus aktuellen Veröffentlichungen einflicht, ist der Text wirklich stark. Der Leser erfährt, warum bestimmte deutsche Städte vor ihrer Befreiung zerstört wurden und andere nicht oder warum nur zwei der 43 Gauleiter bis zum bitteren Ende auf ihren Posten blieben.Die kompetente Erzählung wird allerdings nicht durch große analytische Einsichten ergänzt. Merkwürdigerweise geht Kershaw selbst den Fragen nicht nach, die von seinem eigenen Material aufgeworfen werden. Wiederholt erzählt er uns, die Führung sei fest entschlossen gewesen, einen abermaligen „Dolchstoß“ zu verhindern, sagt aber nie wirklich, was im Ersten Weltkrieg denn eigentlich passiert ist. Oder er zeigt anhand von ausgezeichnetem Tagebuchmaterial, wie Wehrmachtsoffiziere sich mühten, ihren Schwur auf Hitler mit der offensichtlichen Tatsache, dass der Krieg verloren war, in Einklang zu bringen, sagt aber nichts über die politische und militärische Tradition, der solche Ansichten entsprungen sind. Wenn es um die geistige Verfassung geht, braucht man kein Freudianer zu sein, um zu fragen, ob der blinde Gehorsam der Deutschen Merkmale dessen aufwies, was Adorno den "autoritären Charakter" genannt hat. Was also war mit dem Charakter der Deutschen – sei es die Meinecke- oder die Goldhagen-Variante? Kershaw fragt nicht danach. Er diskutiert nicht einmal, ob in einem Land, das erst seit 75 Jahren existierte, unterschiedliche geschichtliche Vergangenheiten und Traditionen 1945 unterschiedliche Resultate zeitigten.Aber das eigentliche Problem von The End besteht darin, dass es schlicht von einer falschen Behauptung ausgeht: Es stimmt einfach nicht, dass noch niemand sich mit der Frage beschäftigt hat, warum die Deutschen weitergekämpft haben. Im Gegenteil haben Historiker diese Frage bis zum Erbrechen diskutiert, Kershaw selbst hat in seiner monumentalen Hitlerbiographie hervorragend davon Zeugnis abgelegt. Was jetzt gebraucht wird, ist nicht eine weitere Aufführung der Götterdämmerung, sondern eine gänzlich neue Produktion. Der Historiker Richard Bessel hat 2009 mit seinem Buch Germany 1945 den Weg gewiesen. Während er das Ausmaß der Zerstörung des letzten Kriegsjahres darstellt, nutzt er diese Ereignisse gleichzeitig, um eine weitreichendere These zu untermauern: Dass nämlich der Taifun, der 1945 durch Deutschland stürmte, den Verlauf der Geschichte dieses Landes verändert habe und den Nationalismus, philosophischen Idealismus und die geopolitischen Ambitionen, die zu den beiden Weltkriegen geführt hätten, für immer weggeblasen habe. Hätte Kershaws Buch nur etwas von dieser Originalität.
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