Vom Saulus zum Paulus

Taliban Es sind gute Neuigkeiten, dass das Weiße Haus seine Afghanistan-Strategie zugunsten von indirekten Verhandlungen mit Führern der Aufständischen überdacht hat

Man muss sich klar darüber werden, was für einen Sinneswandel dies bedeutet. Als Obama Afghanistan zu seinem Krieg machte und im Dezember 2009 30.000 zusätzliche Soldaten an den Hindukusch schickte, setzte er sich drei Ziele: Al-Qaida einen sicheren Zufluchtsort zu verwehren, den Taliban den Wind aus den Segeln zu nehmen und ihnen diesen stattdessen ins Gesicht zu blasen, dass sie keine Möglichkeit mehr haben, abermals die Regierung zu stürzen. Und drittens die afghanische Regierungsarmee zu stärken. Keines dieser Ziele konnte erreicht werden. Es gibt auch keine Anzeichen dafür, dass dies innerhalb des Zeitrahmes gelingt, von dem sowohl Obama als auch der britische Premier Cameron sprechen. Daher also der Sinneswandel.

Langlebiger als gedacht

Die Truppenaufstockung basierte auf der Annahme, dass die Taliban so weit aus Südafghanistan verdrängt werden könnten, bis ihre Position bei etwaigen Verhandlungen entsprechend geschwächt wäre und ihre Forderungen leichter zu erfüllen seien. Weitgehend bedeutungslose Überlegungen wurden über die Taliban angestellt, indem man sie in „versöhnliche“ und „unversöhnliche“ Elemente auseinander dividierte. Der US-Sondergesandte Richard Holbrooke unterschied zwischen der Integration von und der Versöhnung mit rangunteren Aufständischen auf der einen Seite sowie Verhandlungen mit ranghohen Taliban auf der anderen.
Keine dieser strikten Klassifizierungen funktioniert in der Praxis. Sicher haben einige Kämpfer in Helmand ihre Waffen gegen Geldzahlungen abgegeben, aber aus einem lokalen Mechanismus muss erst noch eine landesweite Bewegung werden. In Wahrheit haben die Taliban, die einmal als Netzwerk von Netzwerken beschrieben wurden, sich als komplexer und langlebiger erwiesen, als dies von ihren Gegnern öffentlich eingestanden wird. Solange NATO-Soldaten dort weiterkämpfen, liefern sie den Militanten einen Kitt, der den Zusammenhalt zwischen unterschiedlichen Gruppen und Clan-Loyalitäten, die diesen Aufstand tragen, besser gewährleistet als der Nationalismus der Paschtunen und der supra-ethnische Islamismus zusammen.

Mehr Soldaten in das Land zu schicken, um die Taliban zu spalten, ist daher ein Widerspruch in sich. Die Anwesenheit ausländischer Truppen in Afghanistan ist ihr Hauptrekrutierungsmittel. Schickt mehr Soldaten hin, und ihre Entschlossenheit zu kämpfen wird nur umso stärker.

Kein Wasserhahn

Es scheint, als sei nun zumindest bei einigen im Weißen Haus der Groschen gefallen, auch wenn das Pentagon noch ein Nachhut-Gefecht zugunsten der Haltung kämpfen wird, eine Versöhnung mit den Taliban könne solange verzögert werden, bis man aus einer Position der Stärke heraus verhandeln könne. Aber selbst wenn die Politik der sofortigen Gespräche sich durchsetzen sollte, kommt die Wandlung vom Saulus zum Paulus reichlich spät.

Nach zahllosen Konferenzen gibt es noch nicht einmal den Entwurf einer Einigung, über die man verhandeln könnte, teilweise weil Präsident Karzai nichts in dieser Richtung unternommen hat. Einer der potentiellen Vermittler, der frühere EU-Beamte Michael Semple, wurde wegen inoffizieller Kontakte zu den Taliban entlassen. Ein Mann von Semples Erfahrung wird argumentieren, dass Verhandlungen kein Wasserhahn sind, den man beliebig auf- und zudrehen kann. Für Verhandlungen muss man viel Zeit investieren und sich kontinuierlich um Dialog bemühen, um das erforderliche Maß an persönlichem Vertrauen zwischen den Gesprächspartner zu schaffen.

Der erste Punkt auf dem Forderungskatalog der Taliban wird die Garantie ihrer persönlichen Unversehrtheit sowie ein Ende der Drohnenangriffe in Waziristan an der Grenze zu Pakistan sein. Je näher sich die Verhandlungspartner kämen, desto größer wären die Risse zwischen Karzai in Kabul und den Warlords im Norden, die sich zum Großteil von seiner Regierung abgewandt haben.

Auf jeden Fall werfen mögliche Verhandlungen schwierige Fragen auf: Ist es nicht opportun, weiter zu kämpfen? Kann Karsai im Amt bleiben, wenn es wirklich zu Verhandlungen kommt? Nur durch ein regional ausgehandeltes Abkommen kann der Krieg beendet werden. Ob das Weiße Haus verstanden hat, was alles dafür nötig wäre, diese Politik erfolgreich umzusetzen, muss sich erst noch zeigen.

Übersetzung: Holger Hutt

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Geschrieben von

Editorial | The Guardian

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