Vom Staatsfeind zum Präsidenten

Irland Martin McGuinness, ehemaliger Kommandant der Provisional IRA und führendes Mitglied der Sinn Féin-Partei, hat gute Chance, bald die Republik Irland zu regieren

Martin McGuiness verkörperte einst in Großbritannien das Feindbild schlechthin. Er gehörte zu den „Männern der Gewalt“ – es war ausgeschlossen, mit einem wie ihm zu reden, geschweige denn, politischen Kontakt zu suchen. Wer es wagte, sich mit einem Mitglied der Provisional IRA (PIRA) an einen Tisch zu setzen, hatte sich bereits disqualifiziert. In den Zeiten des nordirischen Bürgerkrieges bis Mitte der neunziger Jahre erschien es nachvollziehbar, Gegner derart zu dämonisieren. Doch ist seither viel passiert.

Die Irisch-Republikanische Armee (IRA) hat nach dem Karfreitagsabkommen von 1998 die Waffen niedergelegt. Ihr politischer Anwalt, die Sinn Féin, ist inzwischen in Nordirland als zweitgrößte Partei hinter Peter Robinsons protestantischer Democratic Unionist Party (DUP) etabliert. In der Republik Irland rangiert Sinn Féin jüngsten Umfragen zufolge ebenfalls auf dem zweiten Platz. Der heute 61-jährige Sinn Féin-Politiker Martin McGuinness ist seit dem Karfreitagsabkommen viermal in die Northern Ireland Assembly gewählt worden und bildete im Mai 2007 nach langen Verhandlungen mit dem protestantischen DUP-Ultra Ian Paisley eine Allparteien-Regierung, die beide als Regierungschefs führten. Dies alles gilt inzwischen als Normalität.

Erzfeind Ian Paisley

Jetzt aber will McGuinness am 27. Oktober zum Präsidenten der Republik Irland gewählt werden. Und darüber sind seine Kritiker über alle Maßen verärgert. Denn noch vor 20 Jahren wurden die Führer und gewählten Abgeordneten von Sinn Féin in Großbritannien geächtet, einige von ihnen – möglicherweise mit Einverständnis des Staates – sogar getötet. Für einige der Gegner von damals scheint die Zeit zu kurz, sich damit abzufinden, dass nun ausgerechnet ein Sinn Féin-Bewerber Aussichten hat, irischer Präsident zu werden.

Dabei dürfte McGuinness sehr wohl wissen, dass er als Staatschef überparteilich sein und sämtliche Interessen der Republik vertreten muss. Doch hat er längst seine Fähigkeit bewiesen, sich mit allen Parteien verständigen zu können. Selbst als es schwerfiel, den nordirischen Bürgerkrieg einzudämmen oder den unionistisch-protestantischen Oranier-Orden während der alljährlichen Marsch-Saison zu besänftigen, war er bereit zu verhandeln – und das ohne Vorbedingungen. Oft erlebten seine Gegner einen freundlichen, umgänglichen Mann der klaren Worte. Sie waren beeindruckt, mochten ihn sogar. Mit dem unionistischen Erzfeind Ian Paisley fand McGuinness zu einer engen, offenbar auch warmherzigen Arbeitsbeziehung. Als der Pfarrer 2008 aus dem Amt gedrängt wurde, glaubten viele, sein Nachfolger Robinson werde lieber die Regierung scheitern lassen, als mit einem Ex-IRA-Mann zu kooperieren. Das Gegenteil war der Fall, auch wenn McGuinness und Robinson jede enge persönliche Beziehung vermieden.

Die Beliebtheit des Chef-Diplomaten der Sinn Féin aus den Tagen des Karfreitagsabkommens gründet auf Integrität, geradlinigem Verhalten und der Weigerung, sich von Erfolg korrumpieren zu lassen. Am 23. Mai 1950 in einer großen und armen Familie in Derry geboren, verließ McGuinness mit 15 die Schule, arbeitete als Schlachtergeselle in der Bogside und trat im Alter von 20 Jahren der Provisional IRA bei. Allüren sind ihm ebenso fremd wie die Angst, wieder in Armut zu fallen. Wie alle Sinn Féin-Parlamentarier überweist er sein Abgeordnetengehalt der Partei und erhält von ihr den irischen Durchschnittslohn zurück. Kaum überraschend spricht McGuinness all jene an, die wirtschaftlich nie etwas vom keltischen Tiger hatten, jetzt aber für dessen Absturz bezahlen müssen. Es sind Leute, die – wie es der Sinn Féin-Kandidat formuliert – nie zur Großen Party geladen waren. Traditionell von den führenden irischen Parteien ignoriert, suchten sie nun eine eigene.

Bis heute Straftatbestand

Da sich McGuinness weder als Nordirland-Premier noch als Privatmann Verfehlungen nachweisen lassen, haben seine Gegner wieder die IRA-Mitgliedschaft hervor geholt. Als ein Ausschuss des britischen Unterhauses den Bloody Sunday vom 30. Januar 1972 in Derry untersuchte, gab McGuinness 2003 zu, an jenem schicksalhaften Tag lokaler Vize-Kommandeur der Provisional IRA gewesen zu sein. Dass er schon zwei Jahre später die IRA verlassen haben will, glaubt ihm bis heute kaum jemand. Gerade sein Status als Führer der IRA hat geholfen, deren Reihen für das Friedensabkommen zu gewinnen. Zwar versteifen sich nicht alle McGuinness-Kritiker auf dessen IRA-Zugehörigkeit über 1974 hinaus. Doch heikel ist das Thema für ihn allemal, es handelt sich bei einer Mitgliedschaft nach britischem Recht bis heute um einen Straftatbestand. Aber sollte McGuinness deswegen nicht irischer Präsident werden? Er hat sooft erklärt, dass die vielen Gewalttaten während des Bürgerkrieges nicht zu rechtfertigen seien. Nur sei das, was in jener politisch aufgeheizten Situation geschah, auch nicht mit dem Werk von gemeinen Mördern gleichzusetzen.

Dies gelte erst recht für die spontane Rebellion vom Sommer 1969 in seiner Heimatstadt Derry, zu der es kam, weil sich eine Mehrheit der katholischen Bürger diskriminiert fühlte. Viele hätten in jenen von Wut und Paranoia geprägten Tagen zu den Waffen gegriffen. Ihn selbst habe diese Erfahrung darin bestärkt, mit der britische Regierung zu verhandeln, um den Ursachen dieser und anderer Konflikte auf den Grund zu gehen. Der Norden, sagt McGuinness, sei auch dank seines Engagement ein besserer Ort geworden – die Republik im Süden könne es werden.

Ronan Bennett ist ein nordirischer Schrift-steller und schreibt Drehbücher für Kino- und Fernsehfilme

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Ronan Bennett | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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