Vom trotzigen Stolz der Armen

Klartext Unsere Autorin hat erst einen Blogeintrag und dann ein Buch über ihr Leben in Armut geschrieben. Dafür erntete sie Anfeindungen, über die sie heute lachen kann
Ausgabe 52/2014
"Ich spreche Klartext da, wo Verwirrung herrscht": Linda Tirado
"Ich spreche Klartext da, wo Verwirrung herrscht": Linda Tirado

Foto: Scott Suchman/The Observer

Zurzeit wiederhole ich mich oft. Ich spreche darüber, wie es ist, arm zu sein – bei Veranstaltungen, in Interviews, im Netz. Ich trete für die ein, die zu sehr damit beschäftigt sind, über die Runden zu kommen, um für sich selbst einzutreten.

Meine Arbeit heute erfordert keinen Mut. Das war noch anders, als ich vor einem Jahr per Zufall zu dieser Arbeit gekommen bin. Ich schrieb einen Blogeintrag über mein Leben in den USA – mit zwei schlecht bezahlten Jobs, zwei kleinen Kindern, Fertiggerichten, fehlenden Zähnen und ohne jede Hoffnung, jemals in die Mittelschicht aufzusteigen. Ich wendete mich damit lediglich an Freunde und ahnte nicht, dass ich in Kürze zur ganzen Welt sprechen würde. Unglaublich viele Menschen lasen meinen Text. Inzwischen ist aus jenem Text ein Buch geworden.

Mein Kommentar provozierte heftige Gegenreaktionen. Manche Leute konnten offenbar nicht akzeptieren, dass es einem Drittel der Amerikaner wirklich so dreckig geht. Sie hielten mir entgegen, ich könne gar nicht arm sein, so gut wie ich mich ausdrücke. Wäre ich wirklich arm, würde ich wohl kaum etwas von Philosophie verstehen. Noch heute finden sich in den Kommentarspalten zu meinen Artikeln und Interviews Leute, die behaupten, ich müsse in Wahrheit ziemlich wohlhabend sein. Dass die Unterlagen über meinen Sozialhilfe-Bezug für jeden im Internet frei zugänglich sind, stört sie nicht weiter. Der Vorwurf, ich würde nur so tun, als hätte ich Probleme mit meinen Zähnen, brachte mich dazu, in einem Online-Video meine Zahnprothesen herauszunehmen, um so eine Diskussion über die zahnärztliche Versorgung in den USA anzustoßen.

Ich habe gelernt, diese Anfeindungen hinzunehmen. Sie scheinen unvermeidlich, wenn man für die Marginalisierten das Wort ergreift. Es ist schwer, eine Frau zu beschämen, die ihr Leben lang immer wieder zu hören bekam, dass sie sich dafür schämen soll, es nicht zu Wohlstand und einer gesicherten Existenz gebracht zu haben. Wenn mir also Leute sagen, ich sei dumm, ich verdiente den Tod oder ich sei der Grund, dafür, dass es mit dem Land abwärtsgeht, dann kann ich nur lachen. Denn ich habe weder dieses Wirtschaftssystem geschaffen noch die Institutionen, die dafür sorgen, dass so viele in ihm gefangen sind.

Mut bedeutet einen Moment der Klarheit, in dem man einfach tun muss, was richtig ist, ohne sich um die Konsequenzen zu kümmern. Mut bedeutet, in zwei Jobs zu arbeiten, hundemüde zu sein, sich aber trotzdem für die Abendschule anzumelden, auch wenn man weiß, dass man dadurch monatelang kaum schlafen wird. Mut bedeutet, sich zu überwinden, erniedrigende Dinge zu tun: um Arbeit zu betteln, obwohl es keine gibt. Den eigenen Stolz hinunterzuschlucken und um Hilfe zu bitten, weil die Kinder etwas zu essen brauchen.

Den Dreck wegmachen

Ich halte mich nicht für besonders mutig. Würde ich in ein brennendes Haus rennen, um eine Katze zu retten? Ich weiß es nicht. Doch das ist die Art von Mut, nach der Helden streben. Ich bin nichts dergleichen. Ich kann lediglich da Klartext sprechen, wo Verwirrung herrscht. Leuten, die sich noch nie die Mühe gemacht haben, auszurechnen, welche Lebenshaltungskosten Menschen mit sehr geringem Einkommen haben, kann ich das Offensichtliche erklären.

Hier also die Wahrheit: Menschen, die in mehreren Jobs arbeiten, sind per definitivem nicht faul. Sie sind vielmehr der einzige Grund dafür, dass unser Wirtschaftssystem trotz Kreditverbriefungen und Bankenkrisen „funktioniert“. Sie stecken Nackenschläge ein, um Quartalsgewinne zu maximieren, die zu Rekordprofiten führen. Und sie wissen, dass es immer wieder sie sein werden, die den Dreck wegmachen. Sie tun es, obwohl man sie deswegen mit Sicherheit nicht weniger verachten wird.

Das ist Mut: sich dessen bewusst zu sein, dass die Welt gegen einen ist, und trotzdem um sein Glück zu kämpfen. Mut bedeutet, Mut zu lieben, zu leben und so viel Spaß zu haben wie möglich, immer in dem Wissen, dass jedes Mal, wenn du ein bisschen Freude ergatterst, Tausende bereitstehen werden, um dich in schrillen Tönen dafür zu verurteilen. Mut ist der trotzige Stolz der arbeitenden Menschen, die sich nicht auf ihre armseligen Jobs reduzieren lassen.

Linda Tirado hat mit ihrem Buch Hand to Mouth in den USA und Großbritannien eine breite Diskussion über Armut ausgelöst

Übersetzung: Holger Hutt

der Freitag digital zum Vorteilspreis

6 Monate mit 25% Rabatt lesen

Geschrieben von

Linda Tirado | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

The Guardian

Der Freitag im Oster-Abo Schenken Sie mutigen Qualitätsjournalismus!

Print

Entdecken Sie unsere Osterangebote für die Printzeitung mit Wunschprämie.

Jetzt sichern

Digital

Schenken Sie einen unserer Geschenkgutscheine für ein Digital-Abo.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden