Sex-Studie Mehr Stellungen, weniger Tabus: Sex ist offener geworden, zeigt die größte amerikanische Studie seit Alfred Kinsey. Aber amerikanische Teenager sitzen vor dem Bildschirm
130 Seiten, auf denen es nur so vor Statistiken wimmelt, der Rest in einer Sprache verfasst, die höchstens ein besessener Wissenschaftler erregend finden kann. Doch die umfangreichste Studie über das Sex-Leben der Amerikaner seit 20 Jahren – und die wohl aufschlussreichste seit Dr. Alfred Kinseys inzwischen berühmten Berichten aus den Fünfzigern – bringt ein paar faszinierende Ergebnisse ans Licht. Und wie immer, wenn es um Verhaltensweisen geht: Sind sie in den USA zu beobachten, dann können wir davon ausgehen, dass es bei uns ähnlich aussieht.
Mehr denn je stehen wir zum Beispiel auf ein bisschen von diesem und ein bisschen von jenem (oder sind zumindest bereit, es zuzugeben). Nicht, dass wir unbedingt jedes Mal, wenn wir Geschlechtsverkehr haben,
ehr haben, allen 41 möglichen Sexualpraktiken frönen, die in der National Survey of Sexual Health and Behaviour (NSSHB) aufgelistet werden. Aber wir scheinen abenteuerlustiger zu werden: Von den fünf grundlegenden Praktiken, die in der Studie identifiziert wurden (Vaginalverkehr, Masturbation (alleine), Masturbation (gegenseitig), Oralsex und Analsex), wollen über sechs Prozent der Männer zwischen 25 und 29 alle fünf ausgeführt haben, als sie zuletzt mit einer Frau schliefen.Nun ja, werden Sie nun sagen, was beweist das schon? Ein paar Sex-Akrobaten (oder Männer, die sich dafür halten) gibt es wohl immer. Aber was ist mit den 16 Prozent Frauen zwischen 18 und 24, die sagen, sie hätten beim letzten Mal vier dieser fünf Techniken benutzt? Oder den acht Prozent unter den Frauen zwischen 50 und 59, die von sich dasselbe behaupten? „Die Ergebnisse zeigen, dass das sexuelle Repertoire unheimlich vielfältig ist“, schlussfolgert jedenfalls Debby Herbenick vom Centre for Sexual Health Promotion der Universität von Indiana, die die Studie leitete, an der 5.865 US-Bürger zwischen 14 und 94 Jahren teilnahmen. Vaginalverkehr werde von Männern und Frauen zwar immer noch am häufigsten praktiziert, mehr denn je hätten jedoch Erfahrung mit „sexuellen Vorgängen“, wie die Forschung es romantisch nennt, bei denen kein direkter Geschlechtsverkehr stattfindet. Herbenick führt das hauptsächlich auf „neue und variierende Definitionen dessen, was es bedeutet „Sex zu haben“, zurück. In anderen Worten: Verhaltensweisen, die einst unter „Vorspiel“ liefen und nur eine Vorstufe des eigentlichen Ereignisses waren – die Vorspeise, wenn Sie so wollen –, werden zunehmend zum Hauptgericht. (Und dabei darf nicht vergessen werden, dass die Statistiken sich nur auf den aktuellsten Geschlechtsverkehr der Probanden bezogen und nicht darauf, was sie treiben, wenn sie bewusst richtig Spaß haben wollen).Vor einem halben Jahrhundert vertrat der Autor Somerset Maugham bereits die Auffassung, es gebe „kaum jemanden, dessen Sexleben die Welt nicht mit Überraschung und Grauen erfüllen würde, machte man es publik“. Das mag sich nun bewahrheiten. Die Studie sucht nicht nach den Gründen, weshalb sich unser Sexualverhalten in diese Richtung entwickelt. (Hätte sie außerdem nach dem Einsatz von Sexspielzeug und pornographischem Material gefragt, dann hätte sie vielleicht noch ganz andere Entwicklungen und eine ganze Reihe zusätzlicher Sex-Akte vermerken können, aber das wurde versäumt.) Nichtsdestotrotz räumt die Studie mit dem nicht tot zu kriegenden Gedanken auf, die verklemmten Angelsachsen seien im Bett weniger abenteuerlustig als etwa Italiener oder Franzosen. Die Missionarsstellung ist vielleicht noch nicht gestorben, das Alpha und Omega des Sex ist sie längst nicht mehr.Doppelt soviel AnalsexOralsex zum Beispiel ist in einem positiven Sinne banal geworden. 88 Prozent der Männer zwischen 30 und 39 haben schon einmal eine Frau oral befriedigt, 69 Prozent im vergangenen Jahr. Dasselbe gilt für 20 Prozent der Jungen zwischen 16 und 17. Über die Hälfte aller Frauen, die an der Studie teilnahmen, wurde im vergangenen Jahr von einem Mann oral befriedigt, 12 Prozent der 14 bis 15-Jährigen, 23 Prozent der 16 bis 17-Jährigen und über die Hälfte der 18 bis 49-Jährigen hatten wiederum ihren männlichen Partner oral befriedigt.Und auch das Masturbieren ist ein universelles Phänomen. Zwischen 28 und 69 Prozent der Männer der unterschiedlichen Altersgruppen berichteten, sie hätten im Verlauf des vergangenen Monats alleine onaniert. Unter den 14 bis 24-jährigen und den über 50-jährigen Männern ist die Selbstbefriedigung die häufigste sexuelle Handlung, die praktiziert wird. Von den Frauen hatte über die Hälfte der 18 bis 49-jährigen in den vergangenen 90 Tagen alleine masturbiert, unabhängig davon, ob sie in einer Beziehung waren oder nicht. Beinahe ein Viertel der Frauen erklärten, sie hätten im vergangenen Monat gemeinsam mit ihrem Partner masturbiert.Überraschender ist da vielleicht der dramatische Anstieg der Analsex-Rate, die sich seit der letzten vergleichbaren Studie aus dem Jahr 1988 effektiv verdoppelt hat. Aus dieser Studie ging damals hervor, dass 12 Prozent der Amerikanerinnen zwischen 25 und 29 im Vorjahr Analsex gehabt hatten – diese Zahl ist auf 21 Prozent angestiegen (und dasselbe trifft auf die Gruppe der 30 bis 39-Jährigen zu). 20 Prozent der Mädchen zwischen 18 und 19 haben schon einmal in ihrem Leben Analsex gehabt, unter den 25 bis 29-jährigen sind es 45 Prozent.Und auch gleichgeschlechtlicher Sex ist auf dem Vormarsch, oder gilt zumindest nicht mehr als Tabu (für die neue Studie wurden kaum noch persönliche Interviews geführt, das meiste wurde Online erhoben – eine Methode, von der angenommen wird, dass sie zu offeneren und ehrlicheren Antworten führt). Während nur etwa sieben Prozent der Männer und Frauen sich als „etwas anderes als heterosexuell“ definierten, sagten weit mehr, sie hätten in irgendeiner Form Sex mit einem Angehörigen des gleichen Geschlechts gehabt. Beinahe 15 Prozent aller Frauen um die Dreißig berichteten zum Beispiel von Oralsex mit einer Frau, während 13 Prozent der Männer über 40 erklärten, sie hätten schon einmal einen Mann oral befriedigt und 50 Prozent der Männer zwischen 50 und 59 angaben, schon einmal von einem Mann oral befriedigt worden zu sein.Mag sein, dass wir immer mehr Sachen machen, das heißt jedoch noch lange nicht, dass wir darüber reden. Die frühere Gesundheitsministerin Jocelyn Elders ist der Ansicht, die amerikanische Gesellschaft betrachte Sex noch immer „vor allem negativ“; sie fordert auf der Basis der Ergebnisse der Studie einen „offeneren, aufrichtigeren Diskurs ... innerhalb der amerikanischen Gesellschaft". „Unsere Gesellschaft ist sexuell gestört, weil unsere Ansichten über Sexualität beschränkt sind und wir zu wenig wissen und verstehen, was die Komplexitäten und die Freuden des Menschseins betrifft“, schreibt sie im Vorwort der Studie. „Wir müssen den Diskurs von Grund auf umgestalten ... zu einer Diskussion über den Genuss.“Die bemerkenswerteste Konsequenz dieses erweiterten Sammelsuriums an Sex-Praktiken ist vermutlich, dass die ganze Sache für Frauen vergnüglicher geworden ist. Während die Männer im Durchschnitt eher durch Vaginalsex zum Orgasmus kamen, berichteten die Frauen, sie kämen eher zum Höhepunkt, wenn ihr Partner mehr als eine dieser fünf Praktiken anwendete – beinahe 90 Prozent erklärten, sie kämen zum Höhepunkt, wenn alle fünf Techniken involviert sind. Besorgniserregender ist, dass eine erschreckende Anzahl von Frauen – beinahe ein Drittel – angab, sie habe in irgendeiner Form Schmerzen im Genitalbereich während des letzten Geschlechtsverkehr gehabt. Unter den Männern waren es nur 5 Prozent.Die so genannte „Orgasmus-Lücke“ könne die ausgewogenere Sex-Diät und die gesteigerte sexuelle Zufriedenheit der Frauen jedoch nicht beseitigen: 64 Prozent der Frauen gaben an, sie hätten bei ihrem letzten Verkehr einen Orgasmus gehabt, 85 Prozent der Männer hingegen gingen davon aus, ihre Gegenpart sei während dem letzten Verkehr zum Höhepunkt gekommen. Darunter können natürlich männliche Partner gewesen sein, die 21 Prozent Unterschied lassen sich damit allerdings sicherlich nicht erklären.Was sich hingegen zu bestätigen scheint, ist, dass Amerikas Jugend in Zeiten von Facebook und Sex-SMS kaum physischen Sex hat, höchstens alleine. Unter den 14 bis 16-Jährigen erklärten nur 10 Prozent, sie praktizierten irgendeine Form von Sex mit einem Partner – 62 Prozent der Jungen und 40 Prozent der Mädchen gaben jedoch gerne zu, im vergangenen Jahr masturbiert zu haben.Kondome (Sponsor der Studie war die Firma hinter der Kondom-Marke Trojan) werden vor allem von den 14 bis 17-Jährigen benutzt. Knapp 80 Prozent der Jungen und 69 Prozent der Mädchen gaben an, sie hätte beim letzten Mal ein Kondom benutzt. Die meisten Kondome wurden von Hispano-Amerikanern benutzt, was vermutlich zeigt, dass die Kampagnen gegen HIV in den hispanischen Vierteln, wo proportional mehr Infektionen auftreten, erfolgreich sind.Anlass zum Jubel geben die Ergebnisse den über 60-Jährigen: Sowohl Männer als auch Frauen bleiben im Bett offensichtlich aktiv und abenteuerlustig, 38 Prozent der Männer und 25 Prozent der Frauen gaben an, sie seien in den vergangenen 12 Monaten oral befriedigt worden. Jenseits der 70 gaben 19 Prozent der Männer und 8 Prozent der Frauen an, immer noch regelmäßig Oralsex zu praktizieren. Somerset Maugham wäre außer sich vor Freude.
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