Die Obdachlosen am Ausgang der ehemaligen Metrostation Saint-Martin in der Nähe der symbolträchtigen Place de la République brauchen kein Schwimmbad, keinen Nachtklub und auch kein Nobelrestaurant. Diese Männer unterschiedlichster Herkunft und kaum abschätzbaren Alters mit vom Leben gezeichneten Gesichtern und Körpern brauchen genau das, was der stillgelegte Bahnhof ihnen gegenwärtig bietet: einen Kaffee, ein Croissant, eine Dusche und ein wenig Ruhe. Sie können sich hier beraten lassen und sogar Bücher ausleihen.
Versucht man ihnen den Plan zu erklären, dieses „Tageszentrum“ der Heilsarmee zu schließen und stattdessen ein schickes Freizeitcenter entstehen zu lassen, zucken sie mit den Schultern. Sie können nichts mit dem Vorschlag der Bürgermeisterkandidatin Nathalie Kosciusko-Morizet (40) von der Mitte-Rechts-Partei UMP anfangen, die nach der Wahl am 23. März ins Hôtel de Ville von Paris einziehen will. Auf die Obdachlosen wirkt die ganze Vorstellung so realitätsfern wie bedrohlich. „Keine Sorge“, sagt ein Passant, der im Vorbeigehen zugehört hat. „Das wird nie passieren.“
Wochen zuvor warteten auf der anderen Seite der Stadt, in der „Milliardärsstraße“ Avenue Foch, Journalisten und aufgebrachte Bürger trotz Kälte und Regen auf die Sozialistin Anne Hidalgo (54), die Favoritin dieser Wahl. Im Schatten prächtiger, aber verriegelter Anwesen – die sich vielfach im Besitz ausländischer Oligarchen, Kleptokraten und Königsfamilien befinden – wurde hier gegen Hidalgos Plan demonstriert, die „grandiose Avenue Foch“, den einstigen Laufsteg der Reichen, in einen „Grünen Korridor“ für Paris zu verwandeln. „Nein zu Madame Hildagos Vergnügungspark“, stand auf hastig gemalten Plakaten. Hildago hingegen hielt daran fest, ihr Plan, der einen Park, einen Fußweg und einen Spielplatz vorsieht, sei „magnifique“.
Viele Protestierer nahmen erregt Anstoß daran, dass ein schattiges, parallel zur Avenue verlaufendes Areal für den sozialen Wohnungsbau vorgesehen ist. „Wir bauen doch schon genug Sozialwohnungen“, lamentierte einer der Bewohner des Arrondissements, in dem es gemessen am gesamten Wohnungsbestand nur 2,5 Prozent Sozialwohnungen gibt, obwohl das Gesetz 20 Prozent vorschreibt. „Da drüben – das sind 15 Wohnungen für Bedürftige“, winkt der Mann ins Ungefähre. „Reicht das nicht?“
Smart und Stilettos
Wer sich bei den Bürgermeisterwahlen in Frankreich im ersten Wahlgang am 23. März nicht mit der absoluten Mehrheit durchsetzt, muss eine Woche später noch einmal antreten. Und die beiden Politikerinnen, die sich an der Seine duellieren, um zur ersten Madame la Maire der Hauptstadt zu werden, wühlen inzwischen immer tiefer in der Kiste mit der Aufschrift Effekthascherei und Spektakel. Es werden Ideen lanciert, deren Umsetzung niemals das Licht der Welt erblicken dürfte. Etwa das Versprechen, es werde keine höheren Steuern geben.
Die in Spanien geborene Sozialistin Anne Hidalgo gilt als Protegée des derzeitigen Bürgermeisters Bertrand Delanoë, daher ihr Spitzname la dauphine (die Thronfolgerin). Ihre Rivalin Nathalie Kosciusko-Morizet zur ihrer Rechten, bekannt als NKM, diente Ex-Präsident Nicolas Sarkozy als Ministerin und trägt den Spitznamen la harfeniste, seit sie das Magazin Paris Match 2005 im Abendkleid und Harfe spielend ablichtete. Viele Pariser lieben die politische Debatte, besonders beim Dîner am Abend, aber dieses Votum scheint sie nicht sonderlich zu echauffieren.
Madani Cheurfa, Analyst am Forschungsinstitut Cevipof, glaubt, die Bürgermeisterwahlen in Paris würden ebenso wie die im übrigen Frankreich von der gedrückten Stimmung überschattet, die gerade auf dem Land laste. Dabei seien die gebildeten Pariser (42 Prozent haben einen akademischen Abschluss, im nationalen Durchschnitt sind es bloß zwölf), von denen viele allein lebten (51 Prozent im Gegensatz zu 33 in der Provinz), politikbewusster und motivierter als der Rest der Republik. Nur sei eben das Problem, dass die Bewerberinnen ein klares Profil schuldig blieben, meint Cheufra. „Beide Kandidatinnen setzten prinzipiell auf Konsens. Jeder würde zustimmen, dass es wichtig ist, gegen Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit oder Krebs zu kämpfen. Genauso gut könnte man sagen: ‚Krieg ist schlecht.‘ Beide beurteilen die Wohnraumsituation als beklemmend, handelt es sich doch um das Thema, das den Parisern die größten Sorgen bereitet. Es folgen die Prioritäten Verkehr und Kriminalität. Auch da herrscht Einigkeit, nur in einigen Details weichen Kosciusko-Morizet und Hidalgo voneinander ab. Etwa, wenn es darum geht, wie viele neue Wohnungen oder Kinderkrippen es geben soll. Folglich wurde der Wahlkampf, so Madani Cheurfa, „in den Medien extrem personalisiert und vereinfacht. Die Tatsache, dass erstmals eine Frau siegen wird, hat diese Tendenz noch verstärkt“.
Leider haben beide Politikerinnen wenig unternommen, um den Eindruck zu zerstreuen, Image oder Gesten seien wichtiger als Ideen oder Ideale. Hidalgo erschien auf der Avenue Foch in einem kleinen schwarzen Smart und wirkt wie eine Mittelklasse-Minimalistin, die sie nicht ist. Geradezu haarsträubend ist ihr offizielles Wahlplakat geraten, das Hidalgo vergangene Woche präsentierte. Ihr Konterfei erscheint darauf so stark retuschiert, dass der PR-Veteran Jacques Séguéla dem Poster beschied, es sehe aus wie „Werbung für eine Anti-Falten-Creme von L’Oréal“. Es sei „ganz und gar unnatürlich“.
Doch auch NKM’s PR-Tross hat mit einem Fauxpas nach dem anderen zu kämpfen. Der nur allzu durchsichtige Versuch Kosciusko-Morizets, sich in einer Metro als volksnah zu inszenieren, ging spektakulär nach hinten los. Tosender Spott machte die Runde, als sich NKM mit sehnsüchtigem Blick fotografieren ließ und ausgerechnet die Linie 13 „ganz bezaubernd“ fand – über keine andere schimpfen die Pariser so sehr wie über die als überlastet geltende 13. Dass NKM dann auch noch die Frage nach dem Preis eines Metrotickets nicht zu beantworten wusste, war dem Image einer Volksvertreterin kaum dienlich.
Ein anderes Mal ließ sie sich – ganz normal – auf einem Vélib’, einem der günstigen Pariser Leihfahrräder, fotografieren. Die 2.000 Euro teure Designerhandtasche im Fahrradkorb blieb ebenso wenig unbemerkt wie die unpassenden Stilettos, die sie bei einem anderen Publicity-Termin als Beifahrerin auf einem Motorroller trug.
Wandel durch Wasser
Aus dem Gelächter wurden Buhrufe, als sich NKM in Lederjacke und Jeans bei einer gemeinsamen Zigarette mit obdachlosen Männern zeigte. Marie-Arlette Carlotti, derzeit beigeordnete Ministerin im Ressort für soziale Angelegenheiten und Gesundheit, übte daraufhin in einem Huffington Post-Artikel mit dem Titel „Madame Kosciusko-Morizet, ein bisschen Anstand!“heftige Kritik. „Sie waren Ministerin und Sprecherin für Nicolas Sarkozy, der versprach, dass es ab 2006 keine Obdachlosigkeit mehr geben werde. Kürzlich haben Sie die Wiedereinführung eines Bettelverbots in Paris gefordert. Und heute posieren Sie wie ein Model mit Menschen, die auf der Straße leben und geben vor, mit Ihnen herumzuhängen und Mitgefühl für sie zu haben. Ihre Ambitionen sollte es ihnen verbieten, verarmte Menschen auszunutzen.“ Sarkozys Ex-Budgetminister Alain Lambert geißelte das Foto als „Beispiel desaströser politischer Kommunikation“.
Seit NKM ihre Absicht offenbarte, die brachliegende Metrostation Saint-Martin in ein Schwimmbad zu verwandeln, entdeckte auch Hidalgo das Wasser als politisches Thema und versprach, alte Bäder instand zu setzen und neue zu bauen – sogar auf der Seine sollen künftig Schwimmbecken treiben. Für die Heilsarmee und die verhärmten Männer draußen vor der Station Saint-Martin hingegen sind andere Dinge wichtiger: „Essen, angemessene Unterkünfte, ärztliche Hilfe“, sagt ein Sprecher der Heilsarmee. „Einfach nur das Nächstliegende und Menschliche tun, das würde schon reichen.“
Kim Willsher ist Frankreich-Korrespondentin des Guardian
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