Ein kleines Orchester spielt in einer kleinen deutschen Stadt ein kleines Musikstück. Man sollte meinen, dass dies kaum der Stoff ist, der für internationale Schlagzeilen sorgt. Schließlich dürfte so etwas jeden Tag im Jahr passieren. Allerdings handelt es sich in diesem Fall bei dem Orchester um das Israelische Kammerorchester, bei dem kleinen Musikstück um das Siegfried-Idyll von Richard Wagner und bei der deutschen Kleinstadt um Bayreuth, wo die Bewunderer des Komponisten in dieser Woche wieder zum alljährlichen Wagner-Festival zusammenkommen.
Fast 200 Jahre nach Wagners Geburt, reicht die Verbindung von Judentum, Wagner und Bayreuth aus, um international für Schlagzeilen zu sorgen. Das ist heute wieder der Fall, wenn die Israelis am Rande des Festival
Rande des Festivals das Siegfried-Idyll spielen, ein anspielungsreiches Stück für Kammerorchester, das Wagner zur Feier der Geburt seines Sohnes Siegfried schrieb, während er an der Oper Siegfried arbeitete.Die Brisanz der Verbindung ergibt sich zum Teil aus Wagners unbestrittenem Antisemitismus. Der eigentliche Grund für die anhaltenden Empfindlichkeiten ist allerdings nicht der 1883 verstorbene Komponist selbst, sind noch nicht einmal seine antisemitischen Ansichten. Es ist vielmehr die Rolle, die seine Musik im „Dritten Reich“ spielte, wo der Wagner-Kult in den Besuchen Hitlers auf dem Bayreuthter Hügel seinen alljährlichen Höhepunkt erfuhr sowie die aktive Komplizenschaft der Wagner-Familie mit dem Nazismus, was die Geschichte problematisch macht. Es ist unstrittig, dass Bayreuth zu einem gewissen Grad durch die Nazi-Verbindung kontaminiert bleibt, auch wenn sich dort musikalisch oft wundervolle Dinge abspielen. In manchen Augen beziehungsweise Ohren gilt das gleiche für Wagners Musik.Kein musikalisches GezeterIch finde eine solche Haltung absurd: Der Antisemitismus gehört im Großen und Ganzen nicht zu den Dingen, die an Wagners Werken von Bedeutung sind oder in ihnen eine große Rolle spielen. Wagner war eines der freigeistigen, künstlerischen Genies der europäischen Geschichte. Seine Werke gehören zu den anspruchsvollsten und wichtigsten, großartigsten und erfüllendsten der europäischen Kultur. Seine Opern handeln von so ziemlich allem, was im Leben, im Tod und in der Kunst von Bedeutung ist. Sie strotzen nur so vor Ideen und Innovationen. Man kann sicher darüber streiten, ob die Thematik einiger Opern antisemitisch ist oder nicht. Sie aber auf musikalisches Gezeter zu reduzieren, das nur der Verbreitung von Wagners antisemitischer Ideen gedient habe, ist schlichtweg falsch und trivial.Wagner war in der Tat Antisemit und Komponist. Aber das macht ihn nicht zu einem antisemitischen Komponisten, was auch immer das heißen soll. Dass Cézanne ein reaktionärer Dreyfus-Gegner war macht ihn auch nicht zu einem reaktionären Maler. Ich gebe zu, dass ich nicht verstehe, was antisemitische Musik sein soll. Wenn Wagner aber wirklich so besessen davon war, seine antisemitischen Ideen durch seine Opern zu verbreiten, wie manche Leute glauben, kann ich nur sagen, dass er dies entweder nicht besonders deutlich oder nicht besonders gut gemacht hat.Das alles heißt nicht, dass es nicht nachvollziehbar ist, dass Wagner in Israel nicht öffentlich aufgeführt werden darf und israelische Orchester ihn nicht spielen dürfen. Dieses inoffizielle Verbot geht auf die Novemberpogrome von 1938 zurück. Im gleichen Jahr wurde das Palästinensische – später dann Israelische – Philharmonieorchester gegründet. Daniel Barenboim hat schon vor zehn Jahren versucht, den Boykott aufzuheben. Er ist einer von vielen jüdischen und israelischen Fürsprechern der wagnerschen Musik. Der heutige Auftritt des Israelische Kammerorchesters in Bayreuth ist der jüngste Versuch, das Thema zur Sprache zu bringen. Es verstößt rein formal nicht gegen den Boykott. (In Israel durfte das Stück nicht geprobt werden, und es war den Musikern freigestellt, ob sie mitmachen wollten oder nicht – nur einer blieb zuhause.) Ich finde das Verbot nicht richtig, respektiere aber die Empfindlichkeiten, die dahinter stecken. Es ist Sache der Israelis, wie sie es in Zukunft damit halten wollen.Feigenblatt für BayreuthIn Deutschland wurde die Aktion des Kammerorchesters jedenfalls von vielen, teilweise einflussreichen Persönlichkeiten begrüßt. Angela Merkel, die ihren Wagner gehört hat und liebt und regelmäßig in Bayreuth zugegen ist, hat die Aufführung ebenso begrüßt wie die Familie Wagner. Das dürfte niemanden überraschen. Es wäre nämlich irreführend zu behaupten, Bayreuth würde seine Nazi-Vergangenheit leugnen, insbesondere unter der neuen Generation, die die Festivalleitung vom Wagner-Enkel Wolfgang übernommen hat, als dieser im vergangenen Jahr starb.Auch wahr ist, dass Bayreuth sich der Verantwortung für seine Vergangenheit noch nicht in vollem Maße gestellt hat. In einem israelischen Kontext kann man die Entscheidung des Kammerorchesters, Wagners wundervolle Musik zu spielen, begrüßen. Im Kontext von Bayreuth vermittelt das Kammerkonzert allerdings den Eindruck, man wolle die Wagners vorschnell aus ihrer Verantwortung entlassen.