Warum der Westen nichts lernen wird

„Krieg gegen den Terror“ Vom Sudan über den Irak bis nach Afghanistan ging und geht es bei militärischen Interventionen mehr um Macht als um Menschenleben
US-Präsident George Bush und seine Frau Laura: Sie wies 2001 bereits auf die Situationen der Frauen in Afghanistan hin. 20 Jahre später soll es nie darum gegangen sein
US-Präsident George Bush und seine Frau Laura: Sie wies 2001 bereits auf die Situationen der Frauen in Afghanistan hin. 20 Jahre später soll es nie darum gegangen sein

Foto: Mandel Ngan/AFP/Getty Images

Im August 1998, zwei Wochen nachdem eine kaum bekannte Terrorgruppe namens al-Qaida sich mit Attentaten auf die amerikanischen Botschaften in Kenia und Tansania an die Öffentlichkeit gebombt hatte, schlug der damalige US-Präsident Bill Clinton mit Raketenangriffen auf eine Arzneimittelfabrik im Sudan zurück. Das Zentrum der Hauptstadt Khartum wurde mitten in der Nacht durch den Einschlag eines Dutzends Tomahawk-Raketen erschüttert. Sie zerstörten die Fabrik, töteten einen Nachtwächter und verletzten elf weitere. Die USA behaupteten, die Fabrik – der größte Hersteller von Medikamenten in einem mit Sanktionen belegten Land – habe im Auftrag von al-Qaida heimlich Nervenkampfstoffe hergestellt.

Allerdings dauerte es nicht lange, bis die amerikanischen Behörden einräumten, dass die „Beweise ... nicht so stichhaltig waren, wie zunächst dargestellt“. Der Angriff war, mit anderen Worten, ein Racheakt gegen ein beliebiges Ziel, ohne jede Verbindung zu dem Verbrechen, das angeblich vergolten werden sollte. Ich studierte damals an der Universität in Khartum und kann mich an das Chaos am Tag nach den Explosionen erinnern. Gemeinsam mit anderen Studierenden ging ich los, um mir die zerstörte Fabrikanlage anzusehen. Als wir vor den Ruinen in einer verschlafenen Stadt standen, die angeblich über Nacht zum Zentrum des islamistischen Terrors geworden war, wurde uns schlagartig klar, was hinter der Logik des „Kriegs gegen den Terror“ wirklich steckt: Unsere Leben waren nichts als Futter für fette Schlagzeilen in amerikanischen Zeitungen, die vor der Stärke, schnellen Tatkraft und Entschlossenheit der westlichen Führer salutieren.

Wir, die wir am kürzeren Hebel sitzen, würden niemals die Protagonisten sein. Das waren die politischen Entscheidungsträger und Meinungsmacher weit weg, für die das, was wir erleben, nur dazu dient, etwas über sie selbst klarzustellen. Die Operation erhielt den schaurigen, aber treffenden Namen „Infinite Reach“, zu deutsch: unbegrenzte Reichweite.

Kein Ende

Der Fehler wurde niemals offiziell zugegeben. Es gab weder eine Entschuldigung, noch übernahm jemand die Verantwortung. Einzelne Beamte der Regierung Clinton räumten hier und da ein, dass die Informationen vielleicht nicht ganz richtig waren, aber niemand wurde in irgendeiner Form dafür bestraft, den Fehler begangen zu haben. Der Besitzer der Fabrik, die nie wieder aufgebaut wurde, brachte den Fall gegen die USA vor ein US-amerikanisches Gericht. Er wurde abgewiesen.

Seit mehr als zwei Jahrzehnten wird der Krieg gegen den Terror von folgendem Muster bestimmt: Die politischen Anführer der USA und Großbritanniens treffen die „schwierigen und mutigen“ moralischen Entscheidungen, und dann muss jemand Anderes die Suppe auslöffeln. Das Chaos in Kabul ist nur die neueste Folge eines langjährigen Dramas, dessen Protagonisten sich nie ändern. Es gibt kein Ende und Verantwortung wird nicht übernommen.

Das ist vielleicht der Grund dafür, dass die Gemüter in der Öffentlichkeit noch immer so erregt sind wie vor 20 Jahren und dass die Auseinandersetzungen heute noch wütender und verzweifelter sind, da wir immer wieder dieselben Positionen vertreten – einerseits unter Berufung auf die moralische Verantwortung, die „westlichen Werte“ zu verteidigen, und andererseits der Hinweis auf die unvermeidlichen Misserfolge der Intervention. Nichts wurde gelöst, keine Lektion gelernt, der Krieg gegen den Terror keiner ernsthaften Überprüfung unterzogen. Plötzlich ist man zurück auf dem Stand von 2003.

Eine Bilanz wurde zum Teil deswegen nie gezogen, weil das Ziel des Kriegs gegen den Terror immer wieder angepasst und verändert wurde: Was gerade mit Joe Bidens kalter und knallharter Realpolitik endete, begann mit dem weitreichenden moralischen Anspruch, die afghanischen Frauen zu befreien und eine Demokratie aufzubauen, die alle einschließt. Biden bestand vergangene Woche darauf, dass dies nie die Mission war – aber das ist Laura Bush sicher neu, die 2001 als erste First Lady der USA eine wöchentliche Radio-Ansprache hielt, die sie der Not der Frauen in Afghanistan widmete. In Wahrheit ist der einzige konsistente Aspekt aller Rechtfertigungen für den Krieg – ob moralisch oder geopolitisch – der Befehlston. Was auch immer getan wurde, es musste so sein, und über die Gründe lässt sich später noch diskutieren.

„Das Ergebnis ist irrelevant“

Angesichts dieser Klimas der Überzeugung wurden zweifelnde Stimmen leicht als zögerlich und ängstlich, träge und nicht loyal abgetan. Frei nach dem Motto: Egal, was die Konsequenzen sind – wir hatten unsere Überzeugungen. Im Kleingedruckten wäre natürlich zu lesen gewesen, dass diejenigen, die die Folgen beklagten, nicht in Gefahr waren, sie zu spüren. „Das Ergebnis ist irrelevant“, erklärte der Journalist und Politiker Daniel Finkelstein 2011 in einer Kolumne in der Times, als die Intervention seines Freundes und damaligen britischen Premierministers David Cameron in Libyen erste Anzeichen des Scheiterns zeigte: „Es war richtig von uns, anzugreifen.“

Mit den veränderten Gründen für eine Intervention wandelten sich auch die Maßstäbe für ihre Berechtigung. Und so wurde der Krieg gegen den Terror zu einem Thema, das in Krisenmomenten oder anlässlich hektischer Aktionen nur durch seine Symbole des Erfolgs oder Misserfolgs diskutiert wurde. Die Auseinandersetzungen in der vergangenen Woche im Parlament und in den Zeitungen waren nicht nur deshalb so heftig, weil der Fall von Kabul so plötzlich kam, sondern auch, weil das Thema so lange ignoriert wurde. Regierungen änderten sich, ein starker liberaler Konsens in den USA und Großbritannien wich vor rechtspopulistischen Herausforderungen zurück. Beide Länder waren mit ihrer eigenen unbeständigen Politik beschäftigt, richteten den Blick stärker nach innen und verloren das Interesse an internationalen Projektionen. Die Realität des Krieges war für die Stellen, die für seine Beendigung wichtig waren, nämlich den politischen und Medien-Kreisen, im Winterschlaf. Als sie wieder ans Tageslicht geholt wurde, lagen die Wunden so offen wie eh und je.

Die ideologische und personelle Versteinerung dieser sehr einflussreichen Kreise hat dafür gesorgt, dass es kaum eine ernsthafte Reflexion über die zahlreichen Misserfolge in Afghanistan geben wird. So viele der zwielichtigen Verkäufer, die vor Jahrzehnten mit dem fehlerhaften Krieg hausieren gingen, sind immer noch da und versuchen, uns Ersatzteile zu verkaufen, um ihn am Laufen zu halten. Bereits einen Monat nach der Invasion Afghanistans im Jahr 2001 appellierte der einflussreiche New York Times-Außenpolitik-Kolumnist Thomas Friedman an seine US-amerikanischen Landsleute, „dem Krieg eine Chance zu geben“. Zwanzig Jahre Kolumnen später beklagt er nun, dass „Amerika versuchte, sich selbst gegen den Terrorismus zu verteidigen, der von Afghanistan ausging, indem es versuchte das Land zu Stabilität und Wohlstand zu bringen“, aber „zu viele Afghanen“ hätten das Geschenk nicht angenommen.

Der Fall Kabuls wird eine weitere verpasste Gelegenheit sein, über eine Standard-Vorgehensweise nachzudenken, die darin besteht, in großer Eile Vergeltung zu üben und sich wieder zurückzuziehen, sobald es passt. Stattdessen wird man in den Medien viel darüber hören, was das über uns sagt, über den Fall oder die „Niederlage“ des Westens, der immer wieder als Hauptperson gehandelt wird, in einer Tragödie, die eigentlich andere getroffen hat. Es sind noch mehr großen Reden im britischen Parlament zu erwarten, die vom moralischen Zweck der Intervention getragen sind – und auch der Verrat an den afghanischen Frauen wird häufig thematisiert werden. Wenig dagegen wird von der Realität eines Krieges zu hören sein, bei dem es letztlich von Sudan über den Irak bis Afghanistan um öffentlichkeitswirksame Vergeltungsmaßnahmen gegen unbedeutende, weiche Ziele ging. Zweck war nicht, Terror zu stoppen oder Frauen zu befreien, sondern „unbeschränkte Reichweite“ zu demonstrieren.

Nesrine Malik ist Kolumnistin des Guardian

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Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

Nesrine Malik | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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