Im Angesicht von schätzungsweise 5.000 bis 10.000 Coronavirus-Fällen in Großbritannien verzichtet die dortige Regierung auf die Schließung von Schulen und das Verbot großer Sportveranstaltungen. Stattdessen hat sie sich für „behavioural nudges“, für verhaltensökonomisch begründetes „Anstupsen“ entschieden: Waschen Sie Ihre Hände, berühren Sie Ihr Gesicht nicht, geben Sie anderen nicht die Hand, bleiben Sie zu Hause, wenn Sie sich krank fühlen, und isolieren Sie sich selbst, wenn Sie ständig husten.
Dieser Ansatz unterscheidet sich wesentlich von den Quarantänemaßnahmen in China, Südkorea, Italien und dem Iran. Aber Großbritannien reagiert auch ganz anders als Länder wie Irland, Norwegen und Dänemark, die trotz einer relativ geringen Zahl von Coronavirus-Fällen Schulschließungen anordnen. Patrick Vallance, wissenschaftlicher Chefberater der Regierung, erklärte, dass man auf Verbote unter anderem deshalb verzichte, weil die britische Regierung auf „Herdenimmunität“ setze: Wenn man genügend Personen, die die Coronavirus-Krankheit absehbar überleben, sich infizieren lasse, könne das Virus keine neuen Menschen infizieren und so die Zahl neuer Fälle reduzieren. Anderen europäischen Staaten erscheint dieser Ansatz waghalsig; die Immunität wird wahrscheinlich nur eine vorübergehende sein, sodass mit späteren Ausbrüchen zu rechnen ist, die durch eine verstärkte Verfolgung der Sozialkontakte Infizierter bewältigt werden müsste.
Noch sei nicht die Zeit
Die Strategie der britischen Regierung steht unter dem Einfluss der „Nudge“-Theorie, die auf den Verhaltensökonomen Richard Thaler und den Politologen Cass Sunstein zurückgeht. „Nudging“ nutzt Erkenntnisse über unsere mentalen Prozesse, um unser Verhalten durch Zureden und positive Behauptungen zu verändern. Anstatt uns zu zwingen, Dinge zu tun, verändert „Nudging“ die Umstände, unter den wir Entscheidungen treffen – zum Beispiel in Sachen Organspende: man soll sich nicht mehr aktiv als Organspender eintragen, sondern sich aktiv dagegen aussprechen.
Die britische Regierung sowie David Halpern, Leiter von deren Teams für Verhaltensforschung (der „Nudge Unit“) begründen ihre Corona-Strategie damit, dass es jetzt noch nicht an der Zeit sei, Schulen zu schließen oder große Versammlungen zu verbieten, weil sich diesbezüglich bald „Ermüdung“ einstellen könnte: die Menschen würden der Verbote überdrüssig und fänden Wege, diese zu umgehen. Ist die Wirksamkeit der Reduktion sozialer Kontakte zeitlich begrenzt, so scheint es logisch, Schließungen und Verbote besser für den Zeitpunkt zu reservieren, an dem wir uns dem Höhepunkt der Epidemie nähern. Die entsprechende Pressekonferenz der Regierung enthielt noch andere, subtilere Spielarten des „Nudgings“: Premierminister Boris Johnson wurde von seinen wissenschaftlichen Beratern flankiert, was sichtbar machen soll, dass die Regierung der Wissenschaft vertraut – und weiß, was sie tut.
Aber Großbritannien steht mit seiner Strategie völlig isoliert da. Wenn die „Nudger“ richtig liegen, warum haben dann so viele andere Länder eine ganz andere Sichtweise auf „die Wissenschaft“? Die Vorhersagen über jene einsetzende „Ermüdung“ scheinen auf den ersten Blick zweifelhaft. Wir könnten der Verbote und Schließungen überdrüssig werden, aber wenn die Schule zu hat, dann hat sie zu. Zudem: nichts garantiert die idealtypische, schnelle, breitflächige Verbreitung des Virus’, wie sie sich die Regierung vorstellt. Und sollten wir zu jenem baldigen Lockdown-Überdruss neigen – warum sollte dann ausgerechnet auf Befolgung des einen Ratschlag Verlass sein, der für jede und jeden ganz leicht zu ignorieren ist – sich die Hände zu waschen?
Verdruss sei das Problem
Im Zentrum der britischen Strategie stehen Vorhersagen über menschliches Verhalten. Diese Vorhersagen basieren auf der Analyse vergangener Episoden – ein häufig fehlerbehafteter Prozess, um Rückschlüsse auf zukünftiges, in vielerlei Hinsicht unabsehbares Verhalten zu ziehen. Auf welche Analysen menschlichen Verhaltens stützen sich die Wissenschaftler der Regierung? Und wie vergleichbar sind sie? Warum sind Ermüdung und Verdruss ein solches Problem für neue Coronavirus-Maßnahmen, bei der alltäglichen staatlichen Verabschiedung und Umsetzung von Gesetzen und Normen, die unser Leben dauerhaft regeln, aber nicht?
Wir können diese Fragen nicht beantworten, weil die Wissenschaftler der Regierung noch nicht offenlegen, welche Studien und Beweise aus der Vergangenheit ihren Ansatz untermauern. Die Taktik der Regierung besteht darin, auf die Referenzen ihrer Berater und Verhaltensforscher zu verweisen und den Experten zu vertrauen.
Halperns Team für Verhaltensforschung wurde 2010 von der Koalitionsregierung aus Konservativen und Liberaldemokraten als ein Unternehmen gegründet, an dem das behördliche britische Cabinet Office Anteile hält. Es kann einige Erfolge vorweisen – etwa die verstärkte Rekrutierung von Schwarzen Menschen und Angehörigen ethnischer Minderheiten für die Polizei und höhere Steuereinnahmen von Großverdienern.
Es gibt in der epidemiologischen Literatur durchaus Hinweise, dass jene Ermüdung ein echtes Problem ist – zum Beispiel zeigt die Forschung, dass die mediale Thematisierung der Grippe abnehmenden Einfluss auf menschliches Verhalten hat. Aber wir können nicht sagen, welche Rolle Studien wie diese für die Regierung spielen, und solche Studien führen uns zum gleichen Rätsel zurück: Wenn wir zum Überdruss neigen, warum sich dann auf Nudges, auf Stupser, verlassen?
An der irischen Grenze
Die Ansätze Großbritanniens und des restlichen Europas sind grundverschieden, und beide können sich als nicht richtig erweisen. Fehler des einen werden sich auf Entwicklungen beim anderen auswirken. Nirgendwo wird dies deutlicher sein als in Irland: Nördlich der irischen Grenze sind die britischen Schulen offen, und die Bürger sollen getreu des Nudging-Mottos „Keep calm and wash your hands“ handeln. Südlich der Grenze sind die Schulen zu – und Nudging gilt als unzulänglich.
Vor nicht allzu langer Zeit gab die von Boris Johnson angeführte Vote-Leave-Kampagne Wählerinnen und Wählern vor, nur ja nicht auf den breiten ökonomischen Konsens der Experten zu hören, wenn es um die Auswirkungen eines EU-Austritts ging. Jetzt führt Johnson eine Regierung, die alle darauf einschwört, auf die Experten – in diesem Fall Verhaltensforscher – zu hören. Deren Rat wäre wohl leichter zu beherzigen, wenn der Öffentlichkeit vorläge, auf welcher substanziellen Grundlage Großbritannien in Sachen Coronavirus so gänzlich anders vorgeht als alle anderen.
Kommentare 4
" .. dass man auf Verbote unter anderem deshalb verzichte, weil die britische Regierung auf „Herdenimmunität“ setze: Wenn man genügend Personen, die die Coronavirus-Krankheit absehbar überleben, sich infizieren lasse, könne das Virus keine neuen Menschen infizieren und so die Zahl neuer Fälle reduzieren."
Oder anders gesagt, wenn die anfälligsten alle durch sind wirds weniger!
Nur dass das eben auch eine sehr hohe Sterberate zur Folge haben wird! Unter Anderem auch wegen vielfacher, erzwungener Anwendung der Triage im neoliberal totgesparten, maroden britischen Gesundheitssystem!!! Für besondere Weitsicht und Verantwortungsgefühl, ist Herr Johnson nun wirklich nicht bekannt sonder eher als funny Polit-Clown!Wenn es kommt, wie es wohl zu erwarten ist, wird er bald ein sehr
trauriger Polit-Clown sein!
God save the Queen!!!
Da habe ich doch auch gelesen, dass der Freund Trump für die Briten als einzigem europäischen Land die Einreise in seine USA offen hält! Aber Trump will mit $ deutsche Wissenschaft kaufen, wenn möglich mit Ross und Reiter. Na ja, wenn schon, denn schon!
»Nur dass das eben auch eine sehr hohe Sterberate zur Folge haben wird! Unter Anderem auch wegen vielfacher, erzwungener Anwendung der Triage im neoliberal totgesparten, maroden britischen Gesundheitssystem!!!«
Was immer es ist: die Tatsache, dass Zahlen sowie Infos über die Entwicklung in GB hierzulande komplett totgeschwiegen werden, ist äußerst seltsam – speziell auch im Anblick der vergleichsweise hohen, mit FR + SP vergleichbaren Infizierten-Zahlen.
Der von der Johnson-Regierung propagierten Strategie stehe ich ebenfalls äußerst skeptisch gegenüber. Kritisch mit im Blick behalten sollte man allerdings auch die Nachrichtenpolitik der hiesigen Leitmedien – vor allem im Hinblick auf anfällige Versuche, die Kosten der Krise auf die unteren Bevölkerungsschichten abzuwälzen. Die aktuellen Kapazitätsengpässe im Gesundheitssystem sind fast allesamt zurückzuführen auf die Sparorgien in den letzten 30, 40 Jahren. Mit Bundeswehr und sonstigen Einberufungsmaßnahmen mag man die aktuelle Situation zwar besser in den Griff bekommen. Eine Alternative zu ordentlichen Löhnen und Personalausstattungen im Gesundheitsbereich sind die olivgrünen Engel, die AKK aktuell mobilisiert, jedoch ganz sicher nicht.
"Eine Alternative zu ordentlichen Löhnen und Personalausstattungen im Gesundheitsbereich sind die olivgrünen Engel, die AKK aktuell mobilisiert, jedoch ganz sicher nicht."
So sieht es aus, da darf Herr Kretschmann in dieser Krise gerne auch mal nicht nur für Frau Merkel sondern auch für alle anderen Deutschen beten! Vielleicht hilfts ja, brauchen tun wir das allemal!!!
Aber was ja auch denkbar wäre: Bei ordentlichen Löhnen, grundlegend an medizinischem Nutzen orientierter Finanzierung der KKHs und vor allem wirklich ausreichender Personalaustattung - würden vielleicht auch die vielen ausgewanderten Ärzte/innen und Pfleger/innen aus Schweden, Norwegen, Östereich, Australien ... etc. zurückkommen!
Aber nein, das wäre zu naheliegend regelrecht viel zu einfach für so ein schwieriges Problem! Jedenfalls für deutsche Politiker!!!
;-)