Warum die Gans töten?

Pakistan In Islamabad tobt unter Politikern ein heftiger Streit über die Frage, wer was über die Operation Osama wusste. Die Armee wird keinesfalls gut aus der Sache herauskommen

Geblendet von ihrem Durst nach Rache haben die USA einen weiteren ihrer Feinde ins Visier genommen und getötet. Und die Funktionäre der Ära Bush erzählen uns nun, dies beweise, dass die Folter in Guantánamo funktioniert habe. Europa applaudiert. Vasallen aus anderen Erdteilen (einschließlich Pakistans Präsident) gratulieren den USA zu der mission accomplished.

Dies mutet einigermaßen skurril an, wenn man bedenkt, dass Osama bin Laden sich offenbar sechs Jahre lang in einem Haus verstecken konnte, das sich in unmittelbarer Nähe zu einer pakistanischen Militärakademie befindet. Niemand glaubt, dass dies ohne Wissen der obersten Geheimdienstführung möglich war. Als ich einen von ihnen 2006 traf (worüber ich in meinem letzten Buch über das Land berichtet habe), bestätigte er mir, dass bin Laden im Land sei und sich an einem sicheren Ort befinde. Die Amerikaner wollten ihn nur tot, so der Sicherheitsmann, es liege aber in Pakistans Interesse, ihn am Leben zu erhalten. In seinen Worten: „Warum die Gans töten, die goldene Eier legt?“ lag eine Anspielung auf die Milliarden, mit denen die Armee finanziell und waffentechnisch von den Amerikanern unterstützt wird. Damals war ich mir nicht sicher, ob mein Informant sich das ausgedacht hatte, um mich zu amüsieren oder in die Irre zu führen, aber offenbar hat er die Wahrheit gesagt.

Souveränität verletzt

In Pakistan tobt eine erbitterte Debatte, aus der das politisch-militärische Establishment in jedem Fall beschädigt hervorgehen wird. Wenn man zugibt, etwas gewusst zu haben, dürfte das intern zu harscher Kritik führen. Es gibt ein großes Unbehagen unter rangniederen Offizieren und Soldaten über Aktionen in der Grenzregion, bei denen sie gezwungen werden, ihre eigenen Landsleute ins Visier zu nehmen. Wenn sich aber am Ende die Version durchsetzt beziehungsweise als wahr erweist, dass die USA es nicht einmal für nötig befunden haben, die Pakistani darüber zu informieren, dass Helikopter unterwegs sind, um bin Laden zur Strecke zu bringen – dann stehen sie in Islamabad als Führer da, die es zulassen, dass die Souveränität ihres Landes mutwillig verletzt wird.

Der scheidende CIA-Chef Leon Panetta hat erklärt, schon früh sei die Entscheidung gefallen, Pakistan uneingeweiht zu lassen, um die Operation nicht zu gefährden. Aber die Geschichten ändern sich schnell und nichts kann für bare Münze genommen werden. Wikileaks hat eine Vereinbarung enthüllt, wonach Islamabad Drohnen-Angriffe auf pakistanischem Territorium zwar tolerieren, diese wegen der öffentlichen Empörung aber offiziell kritisieren werde. Wenn man andererseits bedenkt, dass der pakistanische Geheimdienst ISI CIA-intern als Terrororganisation firmiert, könnte es durchaus sein, dass die Amerikaner Angst hatten, die Informationen könnten in die falschen Hände geraten. Dann aber hätten die Helikopter, die in den pakistanischen Luftraum eindrangen, eigentlich routinemäßig aufgeklärt werden müssen. In der Vergangenheit wurde das pakistanische Radar zwar schon des öfteren von den Amerikanern gestört, um Aktionen zu erleichtern. Dieses Mal war dies jedoch nicht der Fall.

Hassliebe verbindet

Verlässliche Quellen beharren darauf, dass Pakistans Armee vorab nichts von der Kommandoaktion wusste. Da es absolut unmöglich war, dass Pakistan bei dieser Sache hätte gut aussehen können, hätte der ISI, wenn er davon erfahren hätte, zweifellos versucht, den Amerikanern zuvorzukommen – schließlich wird das Ereignis unweigerlich einen Einfluss auf künftige Militärhilfen haben. Wenn die Armee oder der Geheimdienst beteiligt gewesen wären, hätten sie den Ort des Showdowns leicht an einen weniger kompromittierenden Ort wie die Berge von Waziristan verlegen können. So hat man sowohl Afghanistan als auch Indien eine Vorlage geliefert, im Propagandakrieg mächtig zu punkten.

In Wahrheit ändert bin Ladens Tod aber nichts, außer vielleicht, dass er Obama die Wiederwahl sichert – vorausgesetzt, die wirtschaftliche Lage lässt dies zu. Die Besetzung des Irak, der Krieg in Afghanistan und Pakistan und das Libyen-Abenteuer der NATO scheinen unvermindert weiter zu gehen. Der Friedensprozess zwischen Israelis und Palästinensern bleibt festgefahren, auch wenn die arabischen Diktaturen, von denen Obama sich distanziert hat, unter Druck stehen – abgesehen von der schlimmsten: Saudi-Arabien.
In Afghanistan dürften die Taliban-Führer erleichtert darüber sein, nicht mehr länger mit bin Laden über einen Kamm geschoren zu werden, aber sonst ändert der Tod des Al-Qaida-Führers nicht das Geringste. Die Taliban dürften nicht in der Lage sein, Kabul einzunehmen – das haben sie auch während der sowjetischen Besatzung nie geschafft –, aber im Rest des Landes haben sie weite Gebiete unter ihrer Kontrolle. Die USA können diesen Krieg nicht gewinnen. Je schneller sie sich zurückziehen, desto besser. Bis es soweit ist, werden sie von Pakistan abhängig bleiben, dem Verbündeten, mit dem die Amerikaner eine Hassliebe verbindet.


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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Tariq Ali | The Guardian

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