Warum hat Wladimir Putin die Ukraine 2022 angegriffen – und nicht früher?
Analyse Hardliner in Russland hatten von Wladimir Putin schon lange eine Invasion in der Ukraine verlangt. Dass er sich im Jahr 2022 für diesen verbrecherischen Krieg entschied, hat Gründe – und mit dem Agieren westeuropäischer Staaten zu tun
Wolodymyr Selenskyj, Emmanuel Macron, Wladimir Putin und Angela Merkel in Paris (2019)
Foto: Christophe Petit Tesson/Pool/AFP/Getty Images
Warum ist Wladimir Putin im Februar 2022 in die Ukraine einmarschiert und hat versucht, Kiew einzunehmen – und nicht schon Jahre zuvor? Moskau wollte schon immer die Ukraine beherrschen, Putin hat das und seine Gründe dafür in Reden und schriftlichen Veröffentlichungen dargelegt. Warum hat er dann nicht versucht, nach der ukrainischen Revolution von 2014 das ganze oder den größten Teil des Landes einzunehmen, anstatt nur die Krim zu annektieren und den Separatisten im Donbass begrenzte, halb verdeckte Hilfe zu leisten?
Ein Jahr nach dem verbrecherischen Einmarsch Russlands in die Ukraine lohnt es sich, darüber nachzudenken, wie wir genau an diesen Punkt gelangt sind – und wohin die Reise gehen könnte.
Tatsächlich haben russische Hardliner d
ische Hardliner den russischen Präsidenten jahrelang dafür kritisiert, dass er nicht in der Ukraine einmarschiert. Im Jahr 2014 war die ukrainische Armee hoffnungslos schwach; mit Viktor Janukowitsch hatten die Russen einen prorussischen, demokratisch gewählten ukrainischen Präsidenten; und Vorfälle wie die Ermordung prorussischer Demonstranten in Odessa boten einen günstigen Vorwand zum Handeln.Eine Sicherheitsordnung als ZielDer Grund für Putins Zurückhaltung in der Vergangenheit liegt in einem Kernbestandteil der russischen Strategie, die bis in die 1990er Jahre zurückreicht: der Versuch, einen Keil zwischen Europa und die Vereinigten Staaten zu treiben und letztlich eine neue Sicherheitsordnung in Europa zu schaffen, in der Russland ein vollwertiger Partner und eine respektierte Macht ist. Es war immer klar, dass eine umfassende Invasion der Ukraine jede Hoffnung auf eine Annäherung an die Westeuropäer zunichtemachen und sie auf absehbare Zeit in die Arme der USA treiben würde. Gleichzeitig würde ein solcher Schritt Russland diplomatisch isolieren und in eine gefährliche Abhängigkeit von China bringen.Diese russische Strategie wurde zu Recht als Versuch gewertet, den Westen zu spalten und eine russische Einflusssphäre in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion zu zementieren. Eine europäische Sicherheitsordnung mit Russland am Tisch hätte jedoch auch das Risiko eines russischen Angriffs auf die Nato, die EU und höchstwahrscheinlich auch auf die Ukraine beseitigt und Moskau die Möglichkeit gegeben, einen lockeren Einfluss auf seine Nachbarn auszuüben – der vielleicht am ehesten dem derzeitigen Ansatz der USA gegenüber Mittelamerika entspricht –, anstatt sie fest im Griff zu haben. Es war ein Ansatz, der seine Wurzeln in Michail Gorbatschows Idee eines „gemeinsamen europäischen Hauses“ hatte, die der Westen seinerzeit begrüßte.Von Europa nach EurasienAuch Putin hat diese Idee einmal aufgegriffen. Im Jahr 2012 schrieb er: „Russland ist ein untrennbarer, organischer Teil von Groß-Europa, von der europäischen Zivilisation im weiteren Sinne. Unsere Bürger fühlen sich als Europäer.“ Diese Vision wurde inzwischen zugunsten des Konzepts von Russland als einer eigenständigen „eurasischen Zivilisation“ aufgegeben.Zwischen 1999, als Putin an die Macht kam, und 2020, als Joe Biden zum US-Präsidenten gewählt wurde, widerfuhren dieser russischen Strategie schwere Enttäuschungen, aber auch genügend ermutigende Zeichen aus Paris und Berlin, um sie am Leben zu halten.Der systematischste russische Versuch, eine neue europäische Sicherheitsordnung auszuhandeln, fand während der Interimspräsidentschaft von Dmitri Medwedew von 2008 bis 2012 statt. Mit Putins Zustimmung schlug er einen europäischen Sicherheitsvertrag vor, der die NATO-Erweiterung eingefroren, die Neutralität der Ukraine und anderer Staaten wirksam gewährleistet und gleichberechtigte Konsultationen zwischen Russland und führenden westlichen Ländern institutionalisiert hätte. Doch die westlichen Staaten taten kaum so, als ob sie diese Vorschläge ernst nähmen.Angela Merkels WarnungenIm Jahr 2014 waren es offenbar die Warnungen von Bundeskanzlerin Angela Merkel vor „massivem Schaden“ für Russland und die deutsch-russischen Beziehungen, die Putin dazu brachten, den Vormarsch der von Russland unterstützten Separatisten im Donbass zu stoppen. Im Gegenzug weigerte sich Deutschland, die Ukraine zu bewaffnen, und vermittelte zusammen mit Frankreich das Minsk-2-Abkommen, wonach der Donbass als autonomes Gebiet an die Ukraine zurückfallen sollte.2016 wurden die russischen Hoffnungen auf eine Spaltung zwischen Westeuropa und den Vereinigten Staaten durch die Wahl von Donald Trump wiederbelebt – nicht wegen einer bestimmten Politik, sondern wegen der starken Feindseligkeit, die er in Europa hervorrief. Doch die Wahl Bidens brachte die US-Regierung und die westeuropäischen Institutionen wieder zusammen. In diesen Jahren weigerte sich die Ukraine auch, die Autonomie des Donbass zu garantieren, und der Westen versäumte es, Druck auf Kiew auszuüben, dies zu tun.Ukraine und USAHinzu kamen weitere Entwicklungen, die Putin dazu veranlassten, die Angelegenheiten der Ukraine voranzutreiben. Dazu gehörte die strategische Partnerschaft zwischen den USA und der Ukraine vom November 2021, die der Ukraine in Aussicht stellte, nur dem Namen nach ein schwer bewaffneter Verbündeter der USA zu werden, während er weiterhin damit drohte, den Donbass gewaltsam zurückzuerobern.In den vergangene Monaten haben die deutschen und französischen Regierungschefs von 2015, Merkel und François Hollande, erklärt, dass die Minsk-2-Vereinbarung über die Autonomie des Donbass nur ein Manöver ihrerseits war, um den Ukrainern Zeit für den Aufbau ihrer Streitkräfte zu geben. Das haben die russischen Hardliner immer geglaubt, und bis 2022 scheint Putin zu demselben Schluss gekommen zu sein.Dennoch hat Putin fast bis zum Vorabend der Invasion erfolglos versucht, den französischen Präsidenten Emmanuel Macron zu drängen, einen Neutralitätsvertrag für die Ukraine zu unterstützen und direkt mit den Separatistenführern im Donbass zu verhandeln. Wir können natürlich nicht mit Sicherheit sagen, ob dies Putin dazu veranlasst hätte, die Invasion abzublasen; da dies jedoch zu einer tiefen Spaltung zwischen Paris und Washington geführt hätte, könnte ein solcher Schritt Macrons in Putins Kopf die alte und tief verwurzelte russische Strategie wiederbelebt haben, den Westen zu spalten und eine Einigung mit Frankreich und Deutschland herbeizuführen.Putins Angreifbarkeit im InnerenPutin scheint nun voll und ganz mit den russischen Hardliner-Nationalisten darin übereinzustimmen, dass man keiner westlichen Regierung trauen kann und dass der Westen als Ganzes Russland unerbittlich feindlich gesinnt ist. Er ist jedoch nach wie vor anfällig für die Angriffe eben dieser Hardliner, sowohl wegen der großen Inkompetenz, mit der die Invasion durchgeführt wurde, als auch, weil sich ihr Vorwurf, er sei zuvor naiv gewesen, was die Hoffnungen auf eine Annäherung an Europa angeht, anscheinend völlig bestätigt hat.Von dieser Seite, nicht von den russischen Liberalen, geht jetzt die größte Gefahr für seine Herrschaft aus; und das macht es für Putin natürlich noch schwieriger, einen Frieden anzustreben, der nicht zumindest den Anschein eines russischen Sieges hat.In der Zwischenzeit haben die russische Invasion und die sie begleitenden Gräueltaten jede echte Sympathie für Russland im französischen und deutschen Establishment zerstört. Eine friedliche und einvernehmliche Sicherheitsordnung in Europa scheint in sehr weiter Ferne zu liegen. Doch während Putin und sein verbrecherischer Einmarsch in der Ukraine die Hauptverantwortung dafür tragen, sollten wir auch anerkennen, dass die West- und Mitteleuropäer ebenfalls viel zu wenig getan haben, um Gorbatschows Traum von einem gemeinsamen europäischen Haus am Leben zu erhalten.