Warum musste Victoria sterben?

Venezuela Einst galt das Gesundheitssystem des Landes als Vorbild. Jetzt steht es kurz vorm Zusammenbruch
Ausgabe 05/2019
Das J. M. de Los Rios Krankenhaus in Caracas trifft die Krise besonders hart
Das J. M. de Los Rios Krankenhaus in Caracas trifft die Krise besonders hart

Foto: Andia/UIG/Getty Images

In der staubigen Siedlung aus Blechhütten, in der sie ihr kurzes Leben verbrachte, bleibt Victoria Martínez als ein Kind in Erinnerung, das für sein Leben gern tanzte und jeden mit Grüßen überhäufte, den es traf. „Wo immer sie hinging, quoll dieses Mädchen geradezu über vor Liebe“, sagt ihr Vater Misael.

Im August, nur wenige Tage vor ihrem vierten Geburtstag, nahm ihr Leben ein jähes und viel zu frühes Ende. „Papa, bring mich hier raus“, bat sie ihren Vater, als sie eilig auf die Intensivstation gebracht wurde, weil sie Blut spuckte. Es stellte sich heraus, dass sie sich mit einem tödlichen Bakterium infiziert hatte. Stunden später war Victoria tot: ein weiteres Opfer des politischen und wirtschaftlichen Tsunamis, der eine der einst am besten entwickelten Nationen Lateinamerikas heute umtost.

„Als Eltern haben wir das noch nicht verkraftet“, sagt ihr 28 Jahre alter Vater, der glaubt, dass seine Tochter infiziert wurde, während sie im Kinderkrankenhaus von Barquisimeto, Venezuelas viertgrößter Stadt, wegen Leukämie behandelt wurde: „Für uns ist das eine Katastrophe.“

Victoria ist eines von 25 Kindern, das Aktivisten zufolge seit 2016 an dem Serratia-marcescens-Bakterium gestorben ist – Todesfälle, für die sie die unhygienischen Zustände in den Krankenhäusern des Landes verantwortlich machen, in denen es an allem fehlt und wo noch nicht einmal genug Seife vorhanden ist, um die Stationen zu reinigen, wo schlecht ernährte Patienten anfällig für Infektionen und Antibiotika chronisch knapp sind.

Victorias Tod liefert eine ernüchternde Momentaufnahme eines Gesundheitssystems, von dem Experten warnen, dass es bald völlig zusammenbrechen könnte. „Wir wollen, dass die ganze Welt uns hört“, sagt Carmen Padilla, eine Hämodialyse-Patientin, die sich in Barquisimeto für chronisch Erkrankte einsetzt. „Venezuela leidet nicht unter einer humanitären Krise, Venezuela befindet sich in einem kompletten humanitären Ausnahmezustand“, sagt sie.

Während das Land immer weiter auseinanderbricht, malen die staatlichen Medien weiterhin ein rosiges Bild vom staatlichen Gesundheitssystem. Vertreter der Behörden wenden sich täglich im Radio an die Bevölkerung, um dieser vorzuschwärmen, wie sehr die Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas (VSPV) gute Programme für werdende Mütter und Arme unterstütze.

Präsident Nicolás Maduro behauptete zu Beginn des Jahres: „Die Gesundheit der Menschen ist unsere oberste Priorität.“ Ein Besuch in dem Krankenhaus, in dem Victoria Martínez ihre letzten Tage verbrachte, lässt allerdings etwas anderes vermuten. Die Verbrennungsstation ist gefüllt mit bandagierten Kleinkindern, die in Holzfeuer hineingestolpert sind oder sich an Kerosinlampen verbrannt haben – immer gebräuchlichere Quellen von Wärme, Energie und Licht.

Oben auf der Kinderstation stillen Mütter ihre ausgemergelten Babys, deren Socken lose an ihren winzigen Knöcheln baumeln, die sich wie der ganze Knochen deutlich unter dem Fleisch abzeichnen. Sie können nicht hydriert werden, weil das Krankenhaus sich nicht einmal Katheter leisten kann. Ein Arzt fragt: „Was können diese Kinder dafür, dass sie in der falschen Zeit geboren wurden?“ Misael Martínez gibt den überlasteten Ärztinnen und Ärzten des Krankenhauses keine Schuld am vorzeitigen Tod seiner Tochter: Sie hätten sie „wie eine Prinzessin“ behandelt. Doch er beschreibt die Zustände in dem Krankenhaus als so prekär, dass sie nicht nur darum gebeten wurden, ihre eigenen Medikamente, Latexhandschuhe und Spritzen mitzubringen, sondern auch noch das Putzzeug und das Wasser, um Victorias Station überhaupt einmal durchwischen zu können.

Experten sagen, das Gesundheitssystem Venezuelas habe sich in den ersten zehn Jahren unter dem 2013 verstorbenen Präsidenten Hugo Chávez und seiner vor 20 Jahren begonnenen Bolivarischen Revolution enorm verbessert. Die Lebenserwartung stieg, und die Kindersterblichkeitsrate ging zurück, da ein hoher Ölpreis es dem Land mit den weltweit größten Rohölreserven erlaubte, massiv in das Gesundheitssystem zu investierten.

Geschlossene Operationssäle

Zehntausende von kubanischen Ärzten kamen im Zuge der Bolivarischen Missionen nach Venezuela. Es gab eine ganze Reihe von Sozial- und Umweltschutzprogrammen, die der Bevölkerung unter anderem eine kostenfreie Gesundheitsversorgung bringen sollten.

Doch dieses Vorzeigeprogramm wurde offenbar durch den wirtschaftlichen Zusammenbruch des Landes in die Knie gezwungen und belastet die ohnehin schon schwer angeschlagenen Krankenhäuser zusätzlich. Im November warnte die Hilfsorganisation Human Rights Watch vor Venezuelas „verheerender Gesundheitskrise“ und wies auf die steigenden Zahlen von Todesfällen bei Schwangeren und Säuglingen sowie eine Spitze bei Masern, Diphterie, Tuberkulose und Malaria hin.

Einem weiteren Bericht zufolge sind 53 Prozent der venezolanischen Operationssäle geschlossen, 73 Prozent der Notaufnahmen können keinen regulären Service mehr anbieten, und 79 Prozent aller Krankenhäuser verfügen über keine verlässliche Wasserversorgung mehr. Mittlerweile verlassen Mediziner und Pflegekräfte in einem historischen Exodus das Land: Mindestens 22.000 Ärztinnen und Ärzte – 55 Prozent der Gesamtzahl – sollen zwischen 2012 und 2017 ins Ausland gegangen sein.

Lesbia Cortez, eine Gesundheitsmitarbeiterin bei der katholischen Hilfsorganisation Caritas, bestätigt dies: „Es sind praktisch keine Spezialisten mehr übrig.“ Sie schätzt, dass 70 Prozent ihrer ehemaligen Studienkollegen heute in Kolumbien, Argentinien oder Chile praktizieren: „Sie finden keinen Endokrinologen, denn sie sind alle weg. Keinen Dermatologen, denn alle sind weg. Und auch keinen Onkologen, denn auch die sind alle weg. Auch die Dialyseabteilungen sind verwaist, denn auch hier haben die Fachkräfte das Land verlassen.“

Der Arzt Alberto Paniz-Mondolfi ist vor Kurzem aus den USA nach Venezuela zurückgekehrt, um eine Forschungsgruppe zu bilden, die den Anstieg jener durch die Krise verursachten endemischen Krankheiten untersucht, die mit Impfungen zu verhindern wären: „Es wird einen Augenblick geben, in dem in diesem Land schlicht kein medizinisches Personal mehr vorhanden sein wird“, prophezeit er düster. „Wenn ein Angehöriger der medizinischen Fakultät 20 Dollar im Monat verdient, was kann man da erwarten?“

Victorias Vater Misael Martínez sagt, er kämpfe noch immer damit, zu akzeptieren, dass seine Tochter tot ist. Doch er sei entschlossen, den Mund aufzumachen, in der Hoffnung, dass weitere unnötige Tode verhindert werden können. „Ich weiß, dass niemand meine Tochter zurückbringen kann. Aber ich weiß, dass ich Nachbarn in diesem Krankenhaus habe und Cousins. Ich habe Freunde, die in dieses Krankenhaus gehen, denn sie können nirgendwo anders hin, also ist das meine Aufgabe.“

Am Ende fügt er noch hinzu: „Ich werde kämpfen, denn ich glaube, dass es Gerechtigkeit geben wird. Und weil ich noch immer glaube, dass etwas geschehen, dass Venezuela sich verändern und dass das alles vorübergehen wird.“

Tom Phillips ist Lateinamerika-Korrespondent des Guardian

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Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Tom Phillips | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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