Was bleibt, stiften die Hörbücher

Hörbuch Lyrik will gehört werden, aber als Audiobooks können sie eine Qual sein. Um so schöner wirken die wenigen Wohlklänge, Philip Larkin ist so eine Ausnahme

Ich stehe Hörbüchern mit gemischten Gefühlen gegenüber. Wenn sie gut sind, also nicht gekürzt wurden und von einem Autoren gelesen werden, der sich aufs Vorlesen versteht (John Le Careé kommt einem in den Sinn), dann können sie pure Magie sein und uns tatsächlich eine Ahnung davon verschaffen, was den Autoren bewegt. Schlecht vorgetragen – von einem arbeitslosen Schauspieler vielleicht – oder schlecht gekürzt, erweisen sie ihren literarischen Vorlagen allerdings keinen Gefallen. Und wer ans Selberlesen gewöhnt ist, muss beim Hörbuch auch noch einen Autonomieverlust hinnehmen: In den Seiten eines Buches lässt sich doch erheblich besser springen als in Tonaufnahmen.

Aber natürlich weiß auch ich, wie wertvoll Hörbücher für ältere Menschen oder solche ohne Augenlicht sein können. Außerdem sorgen sie für Abwechslung auf langen, drögen Autofahrten. Die amerikanische Schriftstellerin Martha Gellhorn hatte vor ihrem Tod – ihre Sehkraft war zu diesem Zeitpunkt bereits stark eingeschränkt – enormes Vergnügen an Hörbüchern von Verlagen wie Naxos und Chivers. Ihre Bewunderer sandten sie ihr zu und Martha fluchte und schimpfte dann – nicht zu unrecht – über den Verrat an Werk und Verfasser, der ihrer Ansicht nach durch die Kürzungen begangen worden war.

Doch das war im vergangenen Jahrhundert. Heutzutage verkaufen die Hörbucher sich wie warme Semmeln und stellen damit innerhalb eines schwierigen Marktes einen der wenigen wirklichen Wachstumsbereiche dar. Als ich selbst noch Literaturredakteur beim Observer war, beharrte ich stets darauf, dass auch Hörbücher besprochen wurden. Erstens, weil wir das Glück hatten, eine hervorragende Rezensentin zu haben und zweitens, weil unsere Leser ganz offensichtlich dankbar für diesen Service waren.

Die Kunst des lauten Lesens

Tonaufnahmen von gelesener Lyrik sind eine andere Sache. Wenn die Gedichte dann noch vom Dichter selbst vorgetragen werden und er die Kunst des lauten Lesens beherrscht, können sie eine seltene Intimität herbeizaubern. Vergangene Woche erreichte mich per Post solch ein kleines Juwel: Eine CD mit dem Titel The Sunday Sessions, auf welcher der englische Dichter Philip Larkin aus seinen Werken The North Ship, The Whitsun Wedding und High Windows liest.

Diese recht nüchterne Aufnahmen (kaum Anmerkungen, keinerlei Kommentierung und auch kein Papiergeraschel) vereinen die Inhalte zweier vom Dichter selbst besprochener Bänder. Angeblich hat Larkin die Aufnahmen an aufeinander folgenden Sonntagen im Februar 1980 in Hull gemacht, nach einem Mittagessen mit John Weeks, einem Kollegen von der örtlichen Universität und einem Tontechniker, der in der Garage ein provisorisches Studio eingerichtet hatte. Die Bänder, auf denen Gedichte aus den bekanntesten Sammlungen Larkins zu hören sind, blieben offenbar zwanzig Jahre lang unentdeckt auf einem Regal an ihrem Entstehungsort.

Lässig und liebevoll

Einige Lyrikaufnahmen - etwa Yeats Singsang-Darbietung von „Die Seeinsel von Innisfree“ oder das von T.S. Eliot heruntergeleierte „Wasteland“- hinterlassen einen eigenartigen Nachgeschmack, den man nur schwerlich wieder loswird, sie können einen sogar ganz von Hörbüchern abbringen. Dies hier aber ist eine goldene Scheibe, eine Offenbarung: Larkin – beinahe lebensecht und ausgesprochen entspannt (vielleicht liegt es am guten Mittagessen?). Keine Spur von dem Mann in den mittleren Jahren mit dreckigem Regenmantel und Brillengläsern so dick und rund wie Kieselsteine. Stattdessen haben wir es beinahe mit einem ironischen Boulevardier zu tun, der in „Vers de Societe“ die englische Oberschicht parodiert und in „Mr. Bleaney“ mit unverschämter Treffsicherheit seine Vermieterin imitiert.

Es stimmt, in diesen Gedichten geht es um den Verlust von Jugend und Unschuld, die Erschwernisse der Lebensmitte und den nahenden Tod (dabei liest er noch nicht einmal „This be the Verse“). Und doch vermögen sie mit irdischer Leidenschaft und scharfen Beobachtungen zu erheitern. Ich liebe die Zeile aus „Trees“, in der davon die Rede ist, etwas treibe „Knospen / wie etwas, dass beinahe gesagt wurde“. Und dann dieser eindringliche, melodische Schlussvers von „An Arundel Tomb“: „Von uns bleiben wird die Liebe.“ Larkin bringt das ganz lässig, aber er muss gewusst haben, welch ein Glanzstück diese Zeile ist. Alles in allem haben diese Aufnahmen rein gar nichts Schwermütiges oder „Larkineskes“. Der Dichter klingt weit jünger als die sechzig Jahre, die er tatsächlich bereits auf dem Buckel hatte.

Lyrikarchiv für künftige Generationen

Wo wir schon einmal bei Tonaufnahmen sind. Andrew Motion, der seit 1999 Englands Poet Laureate - eine Art Hofdichter - und übrigens ein Protege Larkins ist, hat sich mit außergewöhnlichen Einsatz der Einrichtung eines Lyrikarchives gewidmet. Wer die Sunday Sessions hört, weiß warum. Wie wunderbar wäre es, die Stimmen von Dichtern wie Wordsworth, Bryon oder Coleridge auf Band zu haben. Zukünftige Generationen werden den Klang der Stimmen von Ted Hughes, Seamus Heaney, Tony Harrison, Simon Armitage, Paul Muldoon und vielen weiteren Dichtern der englischsprachigen Welt, von Tasmanien bis Toronto, kennen dürfen.

Egal was wir von ihr halten, leistet die mediale Revolution durch Tonbänder, CDs und Downloads dem einstigen wie dem künftigen goldenen Zeitalter der Literatur gute Dienste.



Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Zilla Hofman
Geschrieben von

Robert McCrum, Guardian | The Guardian

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