Nach einem langen Tag auf der Suche nach geeigneten Drehorten sitzt er in seinem Büro auf der Upper East Side in New York und beschreibt, welche Zuschauer seine neue Fernsehserie gar nicht erst einschalten müssen. Dabei spricht nicht so sehr der Serienautor, sondern eher der Bürger David Simon, der von einem politischen System enttäuscht ist, das zu viele Menschen im Stich lässt. „Für Leute, die glauben, dass wir im Moment gut regiert werden, gibt es keinen Grund, den Fernseher anzumachen. Und wer glaubt, was sich in Washington abspielt – der politische Stillstand, die Vetternwirtschaft, das Parteiengezänk –, hätte etwas mit dem Aufbau einer gerechten Gesellschaft zu tun, muss die Sendung auch nicht sehen.“
Sie sei vielmehr für Menschen gedacht, die den Eindruck hätten, inzwischen sei sogar die Sprache, mit der man über die Probleme spreche, für deren Lösung ungeeignet. „Diese Sprache ist die perfekte Metapher für die Unfähigkeit der US-amerikanischen Regierung, Probleme im Sinne der Mehrheit der Menschen anzugehen.“
Show me a Hero heißt die Serie, die Ende nächsten Jahres anlaufen soll. Sie basiert auf einem Sachbuch der ehemaligen New-York-Times-Autorin Lisa Belkin. Der Untertitel des Buchs – „eine Geschichte von Mord, Selbstmord, ethnischer Zugehörigkeit und Wiedergutmachung“ – verrät die Dramatik dahinter. Belkin erzählt anhand von Interviews mit Beteiligten die Geschichte von Yonkers – einer 200.000-Einwohner-Stadt, 40 Fahrminuten nördlich von Manhattan. Im Kern geht es um Sozialbauten für einkommensschwache Einwohner, die in einem Teil der Stadt gebaut werden sollten, der bis dahin fast ausschließlich Wohlhabenden vorbehalten gewesen war.
Ein hässliches Kapitel
Show Me a Hero zeigt, wie dieses Projekt die politische Verwaltung in die Krise stürzte und Yonkers landesweit in die Schlagzeilen brachte. Als der Disput endlich beigelegt war, beschrieb die New York Times den erbitterten Streit als „ein hässliches Kapital in der Geschichte dieser Stadt“. Nachbarschaften seien auseinandergerissen, politische Karrieren geschaffen und zerstört worden, und der endlose Rechtsstreit habe Yonkers beinah in den Bankrott getrieben.
Als wir an einem sonnigen Morgen Ende September das Schlobohm Housing Project besuchen, wirkt die Gegend ruhig, das größte soziale Wohnungsbauprojekt der Stadt und einer der wichtigsten Drehorte von Show Me a Hero. Die Einzigen, die hier die Stille stören, sind Simon, sein Regisseur Paul Haggis und weitere Crew-Mitglieder, die herausfinden wollen, welche Kameraeinstellungen die beste Sicht auf den nahen Hudson ermöglichen.
Die Geschichte Schlobohms, wie David Simon sie erzählt, beginnt 1980. Damals verklagte die schwarze Bürgerrechtsbewegung National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) mit Unterstützung des US-Justizministeriums die Stadt Yonkers. Der Vorwurf lautete, durch die städtische Wohnungsbau- und Schulpolitik habe über 40 Jahre eine vorsätzliche Segregation zwischen schwarzen und hispanischen Einwohnern auf der einen Seite und wohlhabenderen Weißen auf der andere Seite stattgefunden. Die ärmeren, meist nicht weißen Einwohner seien im Westen der Stadt angesiedelt worden, während der Osten weiß blieb.
1985 gab ein Richter der NAACP recht und wies die Stadt an, 200 Sozialbauten auf der wohlhabenden Eastside zu errichten. Damit begann der Ärger. Die sechsteilige Serie zeichnet die Ereignisse zwischen 1987 und 1994 nach, in denen Anwohner und Politiker das Urteil anfochten, die Demos immer größer wurden und Themen wie das Verhältnis zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen, rassistische Diskriminierungen, Wohnungsbau und Verfall auf die nationale Agenda brachten.
Ein Nachrichtenbeitrag aus jener Zeit vermittelt einen Eindruck davon, wie kontrovers es zuging. Zu sehen ist ein Einwohner, der sich bei einem „Treffen zur Rettung Yonkers‘“ äußert: „Ich habe mit Schwarzen zusammengelebt, aber ich kann nicht in der Nachbarschaft von Kriminellen und Junkies leben, die die Regierung in diese Hausbauprojekte steckt. Da kann der Richter mich meinetwegen für schuldig befinden und der Oberste Gerichtshof auch.“
Nachdem wir Schlobohm an diesem Septembermorgen verlassen haben und im weißen Ostteil von Yonkers angekommen sind, machen Simon und seine Crew wieder Halt. Simon deutet auf eine Zeile zweigeschössiger Häuser in einer grünen Straße. „Das sind einige der Häuser, um die es ging. Deshalb hat Yonkers sich zerfleischt. Dabei sieht man nicht mal, dass es sich um Sozialbauten handelt.“
Was ihn an der Geschichte reizt, ist aber etwas Grundlegendes – die Dysfunktionalität des politischen Systems der USA. An Yonkers lasse sich zeigen, wie die US-Politik heute von Angst und Geld gesteuert werde, sagt er – Kräfte, die nach und nach die Gesellschaft zersetzten. In der Stadt hatte es vor der Kontroverse keine größeren Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen gegeben. „Es gab Probleme wie in jeder Stadt“, sagt Simon. „Aber es gab keinen Grund, warum jemand mit Angst derart wirksam Politik machen sollte. Und doch ist es so gekommen: Angst und Geld sind mittlerweile die einzigen Währungen, die sich in Amerika politisch noch auszahlen.“
Das Ergebnis war eine zweigeteilte Stadt. Der Ostteil machte sich daran, seine Häuser, seine Kinder und seinen Lebensstil vor der vermeintlichen Bedrohung aus dem Westteil zu schützen. „Diejenigen mit den größten Vorbehalten hatten vor allem Angst, dass ihre Häuser und Grundstücke an Wert verlieren würden.“
Hinzu kommt, dass die Geschichte von Yonkers zu einer Zeit spielt, in der das Kapital den Sozialvertrag mit der Arbeiterschaft aufzulösen begann. Von den 80ern an gewann es praktisch alle Auseinandersetzungen mit den Gewerkschaften. Als Wendepunkt gilt die Entlassung von 11.000 Fluglotsen durch Präsident Ronald Reagan im Jahr 1981. Die Fluglotsen waren Angestellte der staatlichen Luftfahrtbehörde gewesen und hatten für kürzere Arbeitszeiten und mehr Lohn gestreikt, was Reagan kurzerhand für illegal erklärte. Von diesem Punkt an war es vorbei mit der Idee, dass sowohl Kapitaleigner als auch Arbeiter von der Marktwirtschaft profitieren sollten. Der Gemeinsinn begann zu erodieren.
„In Yonkers hätte man die Frage stellen müssen: Sitzen wir alle in einem Boot oder nicht? Gibt es eine Gesellschaft oder gibt es keine?“, sagt Simon. „Denn wenn es keine gibt, dann sagt man: Scheiß auf die anderen, meins ist meins. Und die Geschichte in Yonkers fällt mit dem Aufstieg dieser Meins-ist-meins-Mentalität zusammen.“
Der Sieg des Kapitals
Neu sind diese Themen für Simon nicht. Seine große Erfolgsserie The Wire war ein Rundgang durch all jene Institutionen, die die US-Bürger im Stich gelassen haben – von der Politik über den Journalismus bis zum Bildungs- und Justizsystem. Und es war eine laute Klage gegen den Sieg des Kapitals im Kampf gegen die amerikanischen Arbeiter.
In seinem brillanten Einführungsessay zu dem Buch The Wire: Truth be told schreibt Simon: „The Wire zeigt eine Welt, in der die Arbeiter marginalisiert wurden, das Kapital vollkommen triumphiert und einen so großen Teil der politischen Infrastruktur gekauft hat, dass es Reformen verhindern kann. In dieser Welt werden die Regeln und Werte des freien Markts und der Profitmaximierung mit einem sozialen Rahmen verwechselt. Es handelt sich um eine Welt, in der Institutionen wichtiger sind als ganz normale Menschen.“
Ihm ist aber durchaus bewusst, dass diese Botschaft an einigen Zuschauern vorbeigegangen sein dürfte: „Klar gucken Leute The Wire und sagen: Ich liebe die Charaktere, aber ich hasse es, wenn Politik ins Spiel kommt. Ich will einfach nur sehen, wie die Typen sich gegenseitig abknallen. Ich denke mir dann: Versteh schon, was du meinst. Aber ich hab nicht den Journalismus verlassen, um Fernsehen für Leute wie dich zu machen.“
Simon weiß, er ist privilegiert, weil der Bezahlsender HBO ihm weiterhin Aufträge gibt, obwohl die Einschaltquoten für seine Serien relativ gering sind. The Wire kam durch Mund-zu-Mund-Propaganda noch auf ordentliche Zuschauerzahlen. Andere Serien aus Simons Feder – Generation Kill oder Treme etwa – wurden hoch gelobt, fanden aber nur wenig Zuschauer. Sorgen macht er sich deswegen aber nicht: „Man muss sich einer Sache verpflichten. Als Autor muss man schreiben. Und das kann ruhig etwas sein, woran man glaubt.“
Der Balzac des 21. Jahrhunderts
Wenn in den vergangenen Jahren viel darüber diskutiert wurde, inwieweit die anspruchsvollen US-Fernsehserien den Roman als Medium der Gesellschaftsanalyse abgelöst haben, wurde immer wieder David Simon als einer der Hauptverantwortlichen genannt.
Simon, geboren 1960 in Washington, war zwölf Jahre Redakteur der Tageszeitung Baltimore Sun und schrieb zunächst Sachbücher über die Arbeit der lokalen Polizei, bevor er fürs Fernsehen zu arbeiten begann. Seine HBO-Serie The Wire, die 2002 bis 2008 in Baltimore gedreht wurde und ein Gesellschaftspanorama der Stadt zeigt, wurde von Kritikern mit Lob überschüttet. Die Erzählweise wurde mit der Comédie humaine verglichen, David Simon als Honoré de Balzac von heute bezeichnet.
Grundgerüst von The Wire ist die Gegenüberstellung zweier sich ständig berührender Welten – die der Drogenhändler und die der Polizei. Dabei sticht die Serie vor allem durch eine genaue Personenzeichnung und die Charakterisierung der einzelnen Figuren über ihre verschiedenen Slangs und markanten Sprechweisen aus anderen Produktionen heraus.
Simons spätere Serien Generation Kill über einen embedded journalist im Irakkrieg und Treme über das Leben in New Orleans nach dem Hurrikan Katrina bekamen ebenfalls gute Rezensionen, hatten aber bei weitem nicht dieselbe Zuschaueraufmerksamkeit wie The Wire. Jan Pfaff
Er liebt die intellektuelle Konfrontation. Hinter all seinen Arbeiten steckt ein Bedürfnis, sich zu reiben. Ein TV-Drama über Menschen an sich zu schreiben, würde ihm nie einfallen. In seinen Arbeiten geht es immer um Elementares, Strukturelles. Über The Wire schrieb er: „Charaktere sind von essenzieller Bedeutung für jedes gute Drama, genauso grundlegend ist die Handlung. Aber entscheidend ist die Haltung. The Wire wollte nicht einfach ein, zwei gute Geschichten erzählen. Wir haben versucht, einen Streit anzufangen.“
Seit seiner Kindheit streitet er gern. Gelernt hat er das am Abendbrottisch. „Ich bin in einem Haus aufgewachsen, in dem Diskussionen als eine Art Sport betrachtet wurden. Beim Essen diskutierten wir darüber, was in der Welt vor sich ging. Dabei wurde nicht erwartet, dass alle einer Meinung waren – so wäre ja keine gute Diskussion zustande gekommen.“
Er erinnert sich noch an den Tag, an dem er geistig erwachsen wurde – als wäre es ein Initiationsritus gewesen: „Wir waren bei meinem Onkel Hank zu Besuch, und ich hatte mich in einer Diskussion gegen meinen Vater und zwei meiner Onkel positioniert. Ich muss damals 17 gewesen sein. Eineinhalb Stunden lang schaffte ich es, die Debatte offenzuhalten – ein Unentschieden sozusagen. Ich weiß noch, wie Onkel Hank sich zu meinem Vater drehte und sagte: Wer hätte gedacht, dass der Junge Köpfchen hat?“
Das Internet eröffnete Simon eine weitere Möglichkeit zum Streiten. Seine Webseite davidsimon.com nutzt er, um Debattenbeiträge zu veröffentlichen, die Themen reichen von der NSA bis zu den Polizeieinsätzen in Ferguson. Manchmal setzt er sich auch mit Kommentatoren auseinander. Zimperlich geht es da nicht zu.
Sein Hauptthema bleibt aber, wie die Macht des Markts über alle anderen Werte triumphiert hat. „Ich bin überzeugt, dass wir als Wirtschaftsmacht groß wurden, weil wir der Arbeiterschaft den Aufstieg in die Mittelschicht ermöglicht haben. So konnte sie nicht nur das kaufen, was sie brauchte, sondern auch jede Menge unnützes Zeug. Mitte des Jahrhunderts hatte die amerikanische Arbeiterschaft Mittelschichtstatus erreicht und verfügte über ein Einkommen, das der nächsten Generation erlaubte, den sozialen Status zu bewahren und sogar auszubauen. Aber damit ist es vorbei.“
Besonders verachtet Simon jene, die die Arbeiter ihrer Würde beraubt haben und sich weigern anzuerkennen, dass Menschen sich zum Schutz ihrer Interessen kollektiv organisieren müssen. „Gewerkschaften sind Teil der Gleichung. Sie sind nicht die ganze Gleichung. Aber dass es gelungen ist, sie in meinem Land derart zu dämonisieren, ist eine Schande.“
Seinen Essay zu The Wire ließ er mit den Worten enden, es sei eine Serie voller Zorn gewesen. „Aber dieser Zorn ist ehrlich.“ Ja, das ist David Simon.
Übersetzung: Zilla Hofman
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