Kaum jemand ahnte es wohl, als Ernesto Laclau im April 2014 im Alter von 78 Jahren starb: Der in Argentinien geborene und in Oxford ausgebildete Postmarxist würde als intellektuelle Schlüsselfigur hinter der Entwicklung stehen, die nur sechs Wochen später mit dem Erfolg der spanischen Bewegung Podemosbei der Europawahl Ende Mai 2014 ihren Anfang nahm. Während seiner wissenschaftlichen Karriere, die er größtenteils als Professor für politische Theorie an der Universität von Essex durchlief, arbeitete Laclau an einer Theorie, die über das klassische marxistische Gedankengebäude hinausging. Er ersetzte die traditionelle Analyse des Klassenkampfes durch das Konzept der „radikalen Demokratie“. Für Syriza, Podemos und deren Sympathisanten in anderen EU-Staaten dürfte Laclaus Versuch am bedeutsamsten sein, den „Populismus“ gegen dessen vehemente Kritiker zu verteidigen.
Iñigo Errejón, einer der Strategen von Podemos, ließ sich in seiner 2011 fertiggestellten Dissertation über den Populismus in Bolivien stark von Laclau und dessen Frau Chantal Mouffe inspirieren. Wenn man liest, was Errejón dann in seinem Nachruf für Laclau schrieb, erhält man eine Ahnung von den intellektuellen Kräften, die Europas Zukunft prägen können. Auch die Syriza-Partei ist in ihrem Regierungshandeln direkt von Laclaus Ideen inspiriert, finden sich doch in der Führung mehrere Alumni der Universität Essex, zum Beispiel Finanzminister Yanis Varoufakis. So hat Syriza etwa die Koalition mit den Rechtspopulisten von den Unabhängigen Griechen (ANEL) genau nach der Maßgabe aus Laclaus Schrift On Populist Reason von 2005 gebildet. Dessen Intention bestand darin, „verschiedene Interessen miteinander zu verbinden, indem man sich auf die Gegnerschaft zu einem gemeinsamen Feind konzentriert“.
Den Staat ersetzen
Dieser gemeinsame Feind ist im Süden Europas nicht schwer auszumachen. Während der Proteste der spanischen Indignados im Sommer 2011 lautete einer der wichtigsten Slogans: „Wir sind weder rechts noch links, wir sind unten und jagen die da oben.“ Diese „Formierung einer inneren, antagonistischen Grenze“ zwischen dem „Volk“ und einer herrschenden Klasse, die nicht bereit ist, auf die Forderungen des „Volkes“ einzugehen, hat Laclau zufolge geholfen, einer Bewegung wie Podemos das Terrain zu bereiten. Gleiches gilt für eine populistische Massenbewegung wie die heute in Spanien äußerst einflussreiche Plataforma de Afectados por la Hipoteca (PAH/Plattform für die Betroffenen der Hypothekenkrise), die sich gegen Zwangsversteigerungen engagiert. Eine Erhebung für die Zeitung El País kam zu dem Ergebnis, dass 89 Prozent der Befragten direkte Aktionen der PAH wie die Blockade von Zwangsräumungen und Demonstrationen vor den Privatwohnungen von Politikern gutheißen. Erstaunlicherweise lag die Zustimmung bei Wählern der regierenden konservativen Partido Popular (PP) mit 87 Prozent fast so hoch wie im Durchschnitt.
Angesichts der 500.000 Zwangsräumungen seit 2007 und der drastischen Kürzungen im öffentlichen Dienst, die PP-Premier Mariano Rajoy im Namen der Troika durchsetzte, kam es schon vor, dass Spaniens Sozialdienste bei einer der 150 lokalen PAH-Filialen um Hilfe nachsuchten. Wenn eine radikale Bewegung so erfolgreich ist, dass nicht nur Bürger sich mit der Bitte an sie wenden, die Arbeit des Staates zu übernehmen, sondern der Staat selbst, dann ist das schon äußerst bemerkenswert.
Laclau wollte die Analyse des Populismus umkehren und mit der Tradition brechen, die den Begriff stets pejorativ verwendet. Wenn eine Person, Partei oder Bewegung als „populistisch“ verschrieen ist, soll damit für gewöhnlich zum Ausdruck gebracht werden, dass sie an niedere Instinkte appelliert, auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zielt und intellektuelle Standards kurzfristigem Erfolg opfert.
Zur Person
Ernesto Laclau (1935 – 2014) schrieb als Vertreter des Postmarxismus und Poststrukturalismus 1985 sein Hauptwerk Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus (1991 auf Deutsch erschienen). Er definierte darin unter anderem das Projekt einer radikalen sowie pluralen Demokratie und entwickelt die Theorie des italienischen Marxisten Antonio Gramsci (1891 – 1937) weiter
Foto: Alberto Cristofari/A3/Laif
Laclau stellte infrage, dass dies immer so sein muss. Was, wenn Unbestimmtheit, Vereinfachung und Ungenauigkeit bei einer Partei oder Bewegung positive, weil notwendige Qualitäten darstellen? „Folgt die ‚Unbestimmtheit‘ populistischer Diskurse nicht daraus, dass die soziale Wirklichkeit in manchen Situationen selbst unklar und nicht ausreichend bestimmt ist?” Es sei wichtig, so Laclau, „die performativen Dimensionen des Populismus“ zu erforschen. Er fragt, wozu nützt die Vereinfachung? Welche „gesellschaftliche Rationalität bringt sie zum Ausdruck“?
Laclau hat Parteien wie Syriza und Podemos dazu animiert, darüber nachzudenken, wem der Antipopulismus überhaupt zugute kommt. Ablehnung und Verunglimpfung des Populismus seien „Teil der diskursiven Konstruktion einer bestimmten Normalität, eines asketischen politischen Universums, aus dem seine gefährliche Logik ausgeschlossen werden muss“. Hier erhellen Laclaus Worte die derzeitige Krise: Denn die dabei konstruierte Normalität ist uns auf tragische Weise vertraut. Dadurch kontrolliert die vermeintliche Mitte die Grenzen des politischen Denkens – ein Universum, in dem Leute wie der britische Labour-Chef Ed Miliband „links“ genannt werden können, obwohl sie einer neoliberalen Sparpolitik das Wort reden. Es ist auch ein Universum, in dem führende Köpfe der nominalen Linken – in Westeuropa reichen sie von Sozialdemokraten bis hin zu den Trotzkisten – einen geradezu pathologischen Mangel an Vertrauen in große Teile der Bevölkerung offenbaren.
Die innere Grenze
Und das ist der Punkt: Der Populismus gilt als gefährlich, weil die Demokratie gefährlich ist. „Rationalität ist die Sache des Individuums“, schreibt Laclau „und wenn das Individuum sich einer Menge oder Massenbewegung anschließt, wird es zum Gegenstand der kriminellsten oder brutalsten Elemente dieser Gruppe und durchläuft eine ‚biologische Rückentwicklung‘ hin zu einem weniger aufgeklärten Wesen“ – so die Annahme.
Aber die Indignados waren nicht die ersten, die in Spanien millionenfach protestierten und öffentliche Plätze besetzten. Der Podemos-Vorsitzende Pablo Iglesias sagt, seine früheste politische Erinnerung sei die an die Anti-NATO-Demonstrationen in den 80er Jahren oder an die Proteste gegen den Irakkrieg Anfang 2003. „Die innere, antagonistische Grenze“, wie Ernesto Laclau es nennt, zwischen „einer Masse des Volkes“ und „dem postfranquistischen Regime“ in Spanien existierte bereits vor Ausbruch der Finanzkrise 2008. Doch brauchte es jenen einschneidenden Sozialabbau seit Ausbruch der Krise, um diese „innere Grenze“ zu verfestigen.
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