Deutschland, besonders die ehemals geteilte Bundeshauptstadt, hat es der britischen Theaterszene momentan angetan. Im Januar hielt der bekannte Dramatiker und Drehbuchautor David Hare am National Theatre eine Lesung über Berlin im Allgemeinen, diesen Monat wird am Royal Court eine über die Mauer im Besonderen folgen. Angeregt zu diesen monologischen Betrachtungen wurde Hare von einem Aufenthalt am Berliner Set des Films Der Vorleser, dessen Drehbuch aus seiner Feder stammt. In Rahmen eines Deutschland-Schwerpunktes am Londoner Royal Court Theater sind Arbeiten von Marius von Mayenburg und anderen deutschen Dramatikern zu sehen, mit von der Partie ist aber auch das ehemalige Enfant terrible der britischen Theaterszene Mark Ravenhill. Der lässt in seinem neuen Stück Over There Zwillingsbrüder als Metapher für das geteilte Deutschland auftreten.
Das derzeitige Interesse an deutschen Dramatikern und ihrer Heimat ist sicherlich dem 20. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer geschuldet, könnte uns Briten aber auch die Augen dafür öffnen, was wir vom deutschen Theater lernen können.
Es dürfte durchaus aufschlussreich sein, einmal einen Blick durch das andere Ende des Teleskops zu werfen. In Deutschland ist man schon seit über zehn Jahren von britischen Bühnenautoren fasziniert – die Stücke Ravenhills und der in Deutschland fast als Superstar verehrten Sarah Kane werden dort öfter aufgeführt, als irgendwo sonst, beide sind mit mehreren Stücken im Repertoire der Schaubühne vertreten. Das Berliner Haus hat schon des Öfteren mit dem Royal Court zusammengearbeitet, auch Over There ist wieder eine Berlin-Londoner Co-Produktion.
Für mich als Briten war es eine ungewohnte Erfahrung, im November vergangenen Jahres einer Aufführung des Sarah-Kane-Stückes Gesäubert an der Schaubühne beizuwohnen. Der Zuschauersaal war gerammelt voll, einige der vorwiegend jungen Menschen lasen sogar während der Aufführung im Script mit. Das Berliner Publikum war hingerissen von einer düsteren, brutalen Welt: Verstümmelung, Kastration, Nekrophilie, Figuren, die einander Heroin in die Augäpfel spritzten.
Deutsche Theaterzuschauer muten sich mehr zu
Nachdem der Vorhang gefallen war, schien der Applaus kein Ende nehmen zu wollen. Er lässt sich vermuten, dass eine Nation mit einer dermaßen schwierigen Vergangenheit eher als wir Briten bereit ist, Unmenschlichkeit und ihren Konsequenzen ins Angesicht zu schauen. Vielleicht verspürt sie sogar das Bedürfnis, an diese erinnert zu werden. Vielleicht sind die Deutschen auch vertrauter mit der Wahrheit über das menschliche Handeln und betrachten es im Gegensatz zu britischen Zeitungen wie der Daily Mail nicht als Moralverstoß, dieses auf die Bühne zu bringen. In Berlin wurde die Wucht des Schocks, der die Zuschauer erwartete, auch nicht durch bevormundende Warnhinweise auf Nacktheit und derbe Sprache abgemildert, mit denen die Türen eines britischen Theaters übersäht worden wären. Wir täten gut daran, einen ähnlich robusten Umgang mit der Empfindsamkeit der Theaterzuschauer zu entwickeln.
In Berlin scheint es an jeder Ecke Kunstgalerien oder -Studios zu geben, überall warten leer stehende Gebäude darauf, dass jemand sich ihrer annimmt und sie zu einer Bühne macht. Es mag an entspannteren Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften liegen, auf jeden Fall aber scheint es eine sehr gesunde Kultur des allgemeinen Experimentierens zu geben. Die existiert zwar auch in London, allerdings nicht in vergleichbarem Ausmaß. Allein schon weil dort Grundstücke und Immobilen heiß umkämpft und überteuert sind und es sehr schwierig ist, Aufführungen überhaupt finanziert zu kriegen.
Regietheater – eine deutsche Eigenart?
Oft wird angemerkt, beim deutschen Theater handele es sich um Regietheater, die „Version“ desjenigen, der ein Stück inszeniert, gelte mehr, als die Fassung des eigentlichen Autors. Nun ist diese Einstellung keineswegs eine eigentümlich deutsche, sondern in ganz Europa zu finden, an Bühnen wie dem Court – und eigentlich allen britischen Schauspielhäusern – käme sie hingegen der Ketzerei gleich. Dort gilt es als Raison d’Etre des Theaters, dem Autoren eines Stückes gerecht zu werden. Dabei gibt es gute Gründe, den Regisseuren zu gestatten, ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen. Künstler wie Katie Mitchell scheinen einen Weg gefunden zu haben, auch in Großbritannien freier kreativ arbeiten und aufführen zu können, indem sie sich vom Autorentheater entfernen und neue Territorien beschreiten – oder sich antiker griechischer Texte annehmen, bei denen kaum Regienweisungen überliefert sind.
Aufschlussreich ist auch, was der britische Schriftsteller Glen Neath darüber zu erzählen hat, wie es einem seiner Stücke an einem deutschen Theater erging. Er war anfänglich entsetzt darüber, wie hemmungslos die Deutschen in seine Vorlage eingriffen und dabei die Worte für den Ausgangspunkt für eigene Rumbasteleien und das Script für den Teil einer Collage zu halten schienen. Dann aber erkannte er die Vorteile dieser Herangehensweise, und wie spannend diese Art des Experimentierens sein kann. Sollten wir Briten uns nicht ein bisschen was davon abgucken?
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