El Diario de Juárez, die wichtigste Tageszeitung in der Stadt Ciudad Juárez an der Grenze zu Texas, machte am Sonntag ihren Leitartikel auf der Titelseite mit der Schlagzeile auf: „Was verlangen Sie von uns?“. Ihr Adressat: Die Drogenhändler.
Die Zeitung sprach sie mit „Señores“ an und fragte, welche Nachrichten sie veröffentlichen solle und welche nicht, nachdem mit dem Fotografen vergangene Woche der zweite Journalist der Zeitung durch die Hand der Kartelle ermordet worden war.
„Wir möchten Sie wissen lassen, dass wir Journalisten sind und keine Gedankenleser. Wir wollen keine weiteren Toten. Es ist uns nicht möglich, unter diesen Umständen unsere Rolle wahrzunehmen. Sagt uns deshalb, was von uns erwartet wird.“
Die Zeitung sprach unverblümt die Gesetzlosigkeit in Juárez an: „Sie sind zurzeit de facto das Gesetz in dieser Stadt, denn die per Mandat legitimierten Behörden waren nicht in der Lage, unsere Kollegen zu schützen, obwohl wir sie wiederholt dazu aufgefordert haben.“ Selbst im Krieg gebe es Regeln für den Schutz von Journalisten, so die Zeitung weiter. „Deshalb erklärt uns bitte, was ihr von uns fordert, damit wir nicht weiterhin mit dem Leben unserer Kollegen bezahlen müssen.“
Die Zeitung, die bislang, anders als viele andere Zeitungen, trotz der Angst und der Einschüchterungen über das Chaos an der Grenze zu den USA detailliert berichtet hatte, war völlig schockiert über den Anschlag auf ihren Fotografen. Der 21-jährige Luis Carlos Santiago wurde am 16. September erschossen, als er mit einem Praktikanten das Büro verließ, um zu Mittag zu essen. Der Praktikant wurde verwundet.
Nachrichtenredakteurin Rocio Gallegos erklärte gegenüber dem Guardian, El Diario habe nicht entschieden, die Berichterstattung zu zensieren, der Zeitung sei lediglich daran gelegen, zu erfahren, was für die Drogenbarone als tabu gelte. „Wir möchten ihre Sicht kennenlernen und das wird unsere Entscheidungen beeinflussen.“ Der Leitartikel habe sich ebenso an die Regierung wie an die Drogenbarone gewandt. „Wir sind hier alleine. Es gibt hier kein Gesetz.“ Weder die Behörden noch die Drogenhändler hätten bislang geantwortet, berichtete Gallegos. „Wir haben keine Ahnung, ob wir überhaupt eine Antwort erhalten werden.“
El Diario wartet immer noch auf das Ergebnis der polizeilichen Untersuchung des Mordes an ihrem Reporter Armando Rodríguez, die für großes öffentliches Aufsehen sorgte. Rodríguez war 2008 in seinem Auto vor seinem Haus erschossen worden. Von den etwa 6.400 Morden, die in den vergangenen beiden Jahren in Juárez verübt wurden, konnte nur eine Handvoll aufgeklärt werden.
Ende der „Totentafel“?
Dass in Juárez Straflosigkeit herrscht, bestätigte am vergangenen Samstag die Freilassung von vier Männern, die erst vor kurzem den Medien vorgeführt und des Mordes in 55 Fällen angeklagt worden waren. Die Anklage wurde aus Mangel an Beweisen fallengelassen. Obwohl Juárez mit seinen 1,3 Millionen Einwohnern nicht zu den mexikanischen Mega-Citys zählt, wurde hier ein Großteil der 28.000 Morde begangen, seit Präsident Felipe Calderón den Drogenkartellen 2006 den Krieg erklärte.
Rund 30 Journalisten sind verschwunden oder wurden ermordet, einige von ihnen wurden gefoltert oder verstümmelt. Mexiko zählt damit für Reporter zu den gefährlichsten Ländern der Welt.
„Die vielen ungeahndeten Übergriffe zerstören das Recht der Bürger auf freie Meinungsäußerung, das durch das Gesetz geschützt ist und international gilt“, schreibt die US-amerikanischen Interessengruppe Committee to Protect Journalists in einem vor kurzem veröffentlichtem Bericht.
Viele Print- und TV-Medien haben die Berichterstattung über die Drogengewalt auf kurze nachrichtliche Texte eingeschränkt, in denen vermieden wird, Organisationen und Einzelpersonen zu identifizieren. In einigen Städten, dazu zählt zum Beispiel Reynosa, wird nicht einmal mehr über Schießereien berichtet, die sich am hellichten Tage ereignen.
El Diario, die in ihrer Eingangshalle nur einen bewaffneten Sicherheitsmann postiert hat, berichtete weiter über den Ärger in Juárez – über den Konflikt des Sinola-Kartells mit einer einheimischen Gruppe und über die sich zum Teil überlagernden Gefechte, in die hunderte von kriminellen Banden, skrupellose Polizisten und Soldaten verwickelt sind. Da es keine genauen offiziellen Statistiken gibt, ist die „Totentafel“ der Zeitung – eine Liste, die täglich mit einem blauen Filzstift aktualisiert wird – eine der wenigen Möglichkeiten, um die Opferzahl nachzuverfolgen.
Seit der Ermordung Carlos Santiagos sind auf der Anschlagtafel dutzende neuer Namen hinzugekommen, darunter auch die Opfer eines Massakers in einer Bar im Stadtzentrum und eine 52-Jährige und ihr 14-jähriger Sohn, die im Juárez-Tal verprügelt und zerstückelt wurden.
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