Es fällt nicht schwer, zu erklären, warum das Referendum über die schottische Unabhängigkeit auf Messers Schneide steht und die Märkte in heller Aufregung sind. Hätte die Westminster-Elite heimlich auf ein Ja zur Unabhängigkeit hingearbeitet, hätte sie es kaum geschickter anstellen können. Indem sie mit Horrorszenarien vom blanken Ruin drohen, geben Labour, Liberaldemokraten und Torys exakt das Bild des Londoner Establishments ab, von dem die Kampagne der schottischen Nationalisten profitieren kann.
Indem sie mit Angst und Drohungen arbeitete, überließ es die "Better-Together-Kampagne" den Unabhängigkeitsbefürwortern, Hoffnung auf einen wirklichen Wandel und auf Selbstermächtigung zu versprechen. Indem sich London weigerte, auf dem Stimmzettel die dritte Möglichkeit einer „maximalen Regionalisierung“ ("devo max") zuzulassen, verwehrten sie den Schotten die Option, die wohl von den meisten favorisiert worden wäre. Stattdessen haben sie sich auf ein Spiel eingelassen, das ihnen jetzt schwer auf die Füße fällt.
Im Zustand fortgeschrittener Panik hat sich die Regierung Cameron nun doch darauf besonnen, den Schotten mehr Dezentralisierung anzubieten und ausgerechnet den Premier nach Edinburgh geschickt, um für die Union zu werben: Aber Cameron ist die Personifizierung der Tory-Herrschaft, die ein Hauptgrund dafür ist, dass viele Schotten für die Unabhängigkeit stimmen wollen.
Nie wieder Tories
Auf der anderen Seite strotzt die Yes-Kampagne nur so vor Energie und erfreut sich großen Zulaufs aus der Bevölkerung. Hinzu kommt, dass die Scottish National Party (SNP) längst keine schottische Ausgabe der Tory-Party mehr ist und eher zu dem sich nach links neigenden Gravitationszentrum Schottlands passt. Schließlich hat die Unabhängigkeitskampagne auch einen beträchtlichen Teil der schottischen Linken erfasst. Die haben sich nicht mehr so für die Unabhängigkeit begeistert, seit John Maclean, Lenins Konsul in Glasgow, nach dem Ersten Weltkrieg dort für die sozialistische Republik geworben hat.
Nach 35 Jahren, in denen auf die Zerstörung der industriellen und sozialen Substanz unter Margret Thatcher und den folgenden Tory-Regierungen, die von den Schotten nie gewählt wurden, “Light-Touch-Regulierung” und illegale Kriege unter New Labour folgten, haben viele es satt. Sie sehen in der Unabhängigkeit den besten Weg, etwas Besseres zu erreichen. Gerade die Arbeiter wechseln in Scharen die Seiten.
Wenn Schottland am 18. September mit Ja stimmt, wird die Welt natürlich nicht untergehen, ganz egal, wie hoch der Preis sein mag. Auch wenn die Schotten nicht unterdrückt sind, wie die Iren dies waren, haben sie doch das Recht auf Selbstbestimmung und können sich gewiss als unabhängiger Staat behaupten.
Als Sohn eines Gälisch sprechenden Schotten habe ich keinerlei Schwierigkeiten, den Reiz nachzuvollziehen, den die Souveränität und erst recht die Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und demokratischer Verantwortung ausüben. Die Botschaft, nie wieder eine Tory-Regierung zu bekommen, wenn man mit Ja stimmt, könnte nirgends eine größere Wirkung entfalten als in einem Land, in dem 2010 bei der Unterhauswahl 42 Prozent der Wahlbeteiligten Labour und nur 17 Prozent den Konservativen ihre Stimme gaben, um dann Cameron als Premier zu bekommen.
Doch die Vorstellung, ein unabhängiges Schottland sei gleichbedeutend mit einer fortschrittlichen Zukunft in einer sozialen Demokratie nach skandinavischem Vorbild ist eine andere Sache. Und das liegt nicht allein daran, dass den schottischen Wählern überhaupt keine echte Unabhängigkeit angeboten wird. Der Staat, den sich die SNP ausgedacht hat, bindet sich schon im Voraus an Monarchie, NATO, EU und eine Währung, die in London kontrolliert wird.
Sicher, man würde mit Brüssel die Bedingungen eines EU-Beitritts verhandeln, sollte es dazu kommen. Doch dies wird mit Sicherheit strenge Schulden- und Defizit-Regeln mit sich bringen und das ohnehin bereits angespannte fiskalische Erbe in eine Turbo-Austerität verwandeln. Ein Sozialsystem, wie Alex Salmond es verspricht, wäre unter diesen Umständen unmöglich.
Neoliberale SNP
Es kommt hinzu, dass die SNP, die nach der Unabhängigkeit zweifellos den Ton angeben würde, noch immer keine linke Partei ist. Unterstützt von Steuervermeidern, Hedge-Fonds-Anlegern, Privatiers und Rupert Murdoch, würde ihre zentrale wirtschaftspolitische Maßnahme darin bestehen, die Unternehmenssteuer drei Prozent unter die britische zu senken, um Kapital nach Schottland zu locken.
Das ist ein klassisches Rezept für eine Dumping-Spirale, bei der eine Regierung die andere zu unterbieten sucht. Doch die Einnahmen, die für den öffentlichen Dienst und die Renten bleiben, werden auf diese Weise drastisch reduziert. Die SNP ist auch gegen einen Spitzensteuersatz von 50 Prozent, eine Steuer auf die Boni von Bankern oder die Villensteuer auf Immobilien, während sie gleichzeitig Deregulierung und Einschnitte bei der Bürokratie verspricht.
Ohne die 59 schottischen Abgeordneten in Westminster, von denen im Augenblick nur ein einziger der konservativen Partei angehört, wird im Rest Großbritanniens zudem eine Tory-Regierung immer wahrscheinlicher. Labour würde die Mehrheit, die der Partei nach aktuellen Umfragen zufällt, ohne den schottischen Part verlieren. Das bekäme man nicht nur im Rest Großbritanniens zu spüren, sondern vor allem in den Gemeinden, in denen die sozial Schwächsten leben. Eine rechtsgerichtete Regierung in London wird auch auf Edinburgh zurückwirken. Wer auf der Insel die niedrigsten Steuern und kapitalfreundlichsten Arbeitsrechte anbietet setzt alle unter Druck – auch die Schotten. Dabei käme das genaue Gegenteil von dem heraus, was den Wählern versprochen wird.
Linke Unabhängigkeitsbefürworter halten dem entgegen, die Kampagne gehe doch weit über die SNP hinaus. Es seien auch linke, grüne und feministische Gruppen dabei, die hoffen, für eine neue schottische Verfassung sorgen zu können, die dem Rest Britanniens als leuchtendes Beispiel dient.
Tatsache ist, dass die von Jahrzehnten der Deindustrialisierung und der Niederlagen dezimierte schottische Linke und die Labour-Bewegung derzeit zu schwach sind, um einen neuen schottischen Staat zu gestalten. Vielmehr würden die siegreiche SNP und ihre Freunde aus der Wirtschaft dies übernehmen – und zwar im Sinne einer neoliberalen Welt, in der kleine Staaten der Macht der Konzerne ausgeliefert sind, wenn sie nicht über eine außergewöhnlich entschlossene politische Führung verfügen.
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