Waterloo fürs Mehrheitswahlrecht

Großbritannien Die britische Wählerschaft hat gesprochen, doch sie hat sich an ihren eigenen Worten heftig verschluckt. Es wird keine Partei allein regieren können

David Cameron hat seine Torys zwar von ihrer 18 Jahre währenden Talfahrt erlöst, doch offenbar nicht überzeugend und ausreichend genug, um sich eine klare Mehrheit im Parlament zu sichern. Auch die Liberaldemokraten, die sich als dritte Partei in diesem Wahlkampf so viel versprechend schlugen, blieben letzten Endes den ganz großen Durchbruch schuldig. Dennoch werden sie entscheiden müssen, welche der beiden anderen Parteien von ihnen künftig unterstützt werden soll. Doch mit einem relativ schwachen Mandat für eine solch bedeutsame Entscheidung wird dies keine leichte Aufgabe sein. Das Mehrheitswahlrecht erlebt sein Waterloo. In einer Zeit, in der es ihrer so dringlich bedürfte, bekommt das britische Volk nun keine Regierung mit einem klaren Mandat. Stattdessen steht das Land nun vor dem parlamentarischen Chaos, das die Gegner einer Wahlreform am meisten gefürchtet haben. Für die Befürworter einer Reform dürfte das Ergebnis wiederum eine ideale Verhandlungsbasis sein.

Brown noch im Rennen

Da David Cameron sich einer Mehrheit im Unterhaus nicht sicher sein kann, obliegt es Gordon Brown als amtierendem Premierminister, den ersten Schritt zu tun. Er mag am Boden liegen, doch aus dem Rennen ist er noch nicht. Die Konservativen haben ihn zweifelsfrei geschlagen, doch es steht dem bisherigen Premierminister zu, das Terrain zu sondieren und zu erkunden, ob eine Anti-Tory-Koalition mit den Liberaldemokraten und vielleicht auch mit den regionalistisch-nationalistischen Formationen wie der Schottischen Nationalpartei (SNP) möglich wäre. Er müsste sich über die Tatsache hinwegsetzen, dass die Torys eindeutig die stärkste Fraktion stellen und im Hexenkessel eines hung parliament mit ihrer großen Parteidisziplin möglicherweise am ehesten eine Minderheitenregierung durchhalten könnten.

Auch David Cameron wird mit den Liberaldemokraten wie den Nationalisten verhandeln. Als Partei mit dem stärkeren Mandat kann er das mit größerer moralischer Autorität tun, als sie derzeit Gordon Brown zuteil wird. Dem britischen Bürger bleibt nicht anderes übrig, als geduldig abzuwarten, bis die Parteien eine Entscheidung treffen. Das kommt dabei heraus, wenn der Wähler nicht für klare Mehrheiten sorgt.

Kein Freudentaumel mehr

Für Nick Clegg und seine Liberaldemokraten ist zwar der große Moment gekommen – doch es wird ein kurzer Moment sein. Es ist ihnen nicht gelungen, ausreichend Stimmen für ein klares Mandat zu bekommen, mit dem sich eine Reform des Wahlrechts und -systems vorantreiben und Labour aus den politischen Milieus links von der Mitte verdrängen ließe. Vielleicht beten sie jetzt dafür, dass der Vorsprung der Tories so eindeutig wird, dass die Entscheidung nicht bei ihnen, sondern bei den Nationalisten liegt. Doch das erscheint unwahrscheinlich. Wie auch immer sie entscheiden, ist es möglich, dass die Partei sich darüber entzweit. Auf den Freudentaumel der letzten Zeit wird schnell der Kater folgen.

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Übersetzung: Christine Käppeler
Geschrieben von

Simon Jenkins | The Guardian

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